Achtung Reform! – Bürger und Hersteller in Nöten

(März 2023) Meinungsbeitrag über die europäische In-vitro-Diagnostica-Verordnung: Es ist wahrlich keine Premiere, dass ein Gesetzgeber umfangreiche Vorschriften erlässt, die einen Großteil der Bevölkerung bei der Umsetzung zeitlich oder finanziell überfordern. Ein aktuelles Beispiel ist das Vorhaben, ab 2025 eine neue Grundsteuerberechnung einzuführen, zwangsweise verordnet vom Bundesverfassungsgericht. Dafür müssen fast 36 Millionen Grundstücke in Deutschland neu bewertet werden. Allerdings nicht von den Finanzämtern, sondern von den Eigentümern selbst. Und zwar endgültig bis 31. Januar 2023. Ein Drittel der betroffenen Bürger sah sich dazu außerstande – angesichts der komplizierten Fragebögen und negativen Folgen bei ungeschickten Angaben durchaus nachvollziehbar. Was tun? Bayern prescht nun vor und gewährt eine erneute Verlängerung bis Ende April 2023.

Das Prinzip führt uns von der Allgemeinheit ins Spezielle: Ähnliche Erfahrungen haben gerade auch der europäische Verordnungsgeber und einhergehend die Hersteller von In-vitro-Diagnostika gemacht. Die EU hatte Ende Februar 2017 mit der IVDR eine neue Verordnung veröffentlicht, die zusammen mit der MDR am 25.Mai 2017 in Kraft trat und die bisherige IVD-Richtlinie (98/79/EC) abgelöst hat. Eine hochwirksame Regulierung, da 70% der klinischen Entscheidungen auf der Anwendung von In-vitro-Diagnostika basieren. Allerdings stieg nun die Anzahl der zu befolgenden Verordnungsartikel von 24 auf 113 und die englische Fassung enthält 157 Seiten.

Die IVDR hat mit einer Vielzahl strengerer und zusätzlicher Bestimmungen die regulatorischen Anforderungen für alle betroffenen Akteure deutlich verschärft, insbesondere für die Hersteller. Von der Forschung bis zur Marktbeobachtung sind nahezu alle Bereiche betroffen: Zu den wesentlichen Änderungen gehören u.a. ein vollkommen anderes System zur Risikoklassifizierung wie auch deutlich umfangreichere Anforderungen an die Dokumentation und die Datenerhebung sowie die klinische Bewertung, die oft nur schwierig und mit erheblichem Aufwand zu erfüllen sind.

Bereits im September 2021 schlug der Industrieverband Spectaris mit einer Warnung von Geschäftsführer Jörg Mayer Alarm: „Wir sehen hier sofortigen zwingenden Handlungsbedarf, ansonsten werden lebenswichtige Diagnostikprodukte, die für die Vorbeugung und Diagnose vieler Krankheiten wie Krebs, Schlaganfall, Herzinfarkt, Diabetes und auch COVID-19 entscheidend sind, nicht mehr auf dem Markt verfügbar sein.“ Die Umsetzung der IVDR könne nicht rechtzeitig erfolgen, da die regulatorische Infrastruktur mit den Benannten Stellen, der Europäischen Datenbank, den notwendigen Referenzlaboratorien, Guidance-Dokumenten und sekundären Rechtsakten noch nicht aus-reichend zur Verfügung stehe.

Gebeutelt durch die COVID-19-Pandemie, die in der Branche in erheblichem Umfang Ressourcen absorbierte, erreichte die Industrie im Oktober 2021 in einem Eilverfahren eine Änderungsverordnung zur IVDR, die zwar nicht den Geltungsbeginn vom 22. Mai 2022 verschiebt, aber gestaffelte Übergangsregelungen beinhaltet. Doch auch diese Nachbesserung konnte die Probleme in der praktischen Umsetzung der IVDR nicht lösen. Für alle IVD der neuen Klassen B bis D, welche Schätzungen zufolge voraussichtlich etwa 80 bis 90 Prozent aller IVD ausmachen werden, ist die Beteiligung einer Benannten Stelle erforderlich. Deren Kapazitäten aber sind bekanntlich noch immer bescheiden. Insbesondere die geplanten Neuregelungen für IVD aus Eigenherstellung haben für Betreiber und Anwender beträchtliche Konsequenzen, auch im Hinblick auf die klinische Forschung. Dazu empfehle ich die IVDR in der konsolidierten Fassung des Johner-Institutes.

Doch man darf neuerlich hoffen: So sah sich die Europäische Kommission am 6. Januar 2023 veranlasst, einen erneuten Vorschlag für eine Verlängerung der Übergangsfristen vorzulegen. Diese Maßnahme würde den Herstellern und Benannten Stellen etwas mehr Luft verschaffen, um IVD-Bestandsprodukte durch das Konformitätsbewertungsverfahren zu bringen. Damit könnten Produkte, die bereits unter IVDD vor dem 26. Mai 2022 in Verkehr gebracht wurden bzw. innerhalb der geltenden Übergangsfrist für Klasse B-, C- und D-Produkte liegen, uneingeschränkt „abverkauft“, also bereitgestellt und in Betrieb genommen werden. Die neuen Fristen hängen von der künftigen Risikoklasse ab und ob eine Benannte Stelle bereits unter IVDD beteiligt war. So weit, so gut. Gleichwohl besitzen Hersteller mit einem freiwillig gemäß ISO 13485 zertifizierten Qualitätsmanagementsystem dadurch nach der IVDR noch keine rechtskräftige Bescheinigung. Denn nur ein Zertifikat einer nach IVDD akkreditierten Benannten Stelle ist gültig! Und das Thema „Benannte Stelle“ hatten wir ja schon…

Es bleibt also spannend – und leider auch anstrengend, und will man auch nicht stetig nach oben wettern, so bleibe den Regulierern doch der dezent vorwurfsvolle Zuruf nicht erspart: Besser vorher besonnen alle betroffenen Kreise anhören als auf deren Alarmmeldungen warten! Denn vorbeugen ist bekanntlich besser als heilen! Immerhin besteht ja auch die Gefahr, dass diese Mangel-Lage ebenso wie die eingangs erwähnte Reform irgendwann den Alltag der Bürger erreicht …

Quelle Text: Manfred Kindler

Quelle Bild: Siemens Healthineers

Der Text stammt aus der aktuellen Ausgabe der mt|medizintechnik mit dem Schwerpunktthema IVDR.