Bundesweit einheitlicher Dokumentationsstandard für die gesamte Versorgungskette des Notfallpatienten

(Mai 2018) In Deutschland nehmen circa 21 Millionen Patienten pro Jahr eine medizinische Notfallversorgung im Krankenhaus in Anspruch. Einrichtungsübergreifende Aussagen dazu sind jedoch nicht möglich, da weder einheitliche Standards in der Dokumentation der Akutmedizin noch eine zentrale Einrichtung existieren, um diese Daten zusammenzuführen.

Darauf wiesen Prof. Dr. Röhrig, Universität Oldenburg, und Prof. Dr. Walcher, Universität Magdeburg, im Interview anlässlich des gemeinsamen parlamentarischen Abends „Digitalisierung in der Notfallmedizin“ des Verbundforschungsprojekts AKTIN („Verbesserung der Versorgungsforschung in der Akutmedizin in Deutschland durch den Aufbau eines Nationalen Notaufnahmeregisters“) und der TMF Ende April in Berlin hin. Um die Daten aus der Akut- und Notfallmedizin für ein übergreifendes Qualitätsmanagement, die Versorgungsforschung und Surveillance zugänglich zu machen, erarbeitet das BMBF-geförderte AKTIN-Projekt seit 2013 die Grundlagen für ein nationales Notaufnahmeregister.

Herr Professor Walcher, wie wird die Notfallversorgung in deutschen Kliniken heute dokumentiert?

Prof. Dr. Walcher: In den Notaufnahmen deutscher Kliniken gibt es unterschiedliche Vorgehensweisen der Dokumentation. Meist wird die medizinische Notfallversorgung nach hauseigenen Standards auf Papier dokumentiert. Zunehmend werden auch IT-Anwendungen eingesetzt, die aber keine einrichtungsübergreifende Datennutzung ermöglichen. Daher ist es momentan nicht möglich, auf Basis der täglichen klinischen Dokumentation Aussagen über den Stand der Notfallmedizin in Deutschland zu machen. Auch für wissenschaftliche Studien zur Verbesserung der Versorgung können die Daten bisher nicht standortübergreifend genutzt werden.

Welche Folgen hat diese Situation? Wie macht sie sich in der Versorgung der Patienten und in der Arbeit der Rettungskräfte, Notärzte und Kliniken bemerkbar?

Prof. Dr. Walcher: Wir wissen fast nichts zum Status quo des Behandlungsgeschehens in deutschen Notfallkliniken. Eine einrichtungsübergreifende Qualitätssicherung oder ein deutschlandweites Benchmarking der klinischen Notfallversorgung ist mangels einer einheitlichen Datenbasis schlicht unmöglich. Alles, was wir wissen, stammt aus stichprobenhaften Datenerhebungen im Rahmen von Umfragen oder Studien. Mit einiger Sicherheit kann man aber sagen, dass es als Folge des unzureichenden Datenaustauschs zwischen Vertragsärzten, Rettungskräften und Kliniken zu redundanter Dokumentation, Fehlentscheidungen durch Informationsverlust und teilweise sogar zu unnötigen Doppeluntersuchungen kommt. In der Notfallmedizin werden die Probleme in der Kommunikation und Abstimmung zwischen den beteiligten Akteuren in der Versorgung deutlich. Hier besteht erhebliches Optimierungspotential.

Herr Professor Röhrig, was genau tut AKTIN, um diese Ausgangslage zu verbessern?

Prof. Dr. Röhrig: Alle 15 Kliniken des AKTIN-Projekts nutzen für die Dokumentation von Notfällen das Notaufnahmeprotokoll der „Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin“ (DIVI e.V.). Dieser Teil der Behandlungsdokumentation bildet als einheitlicher Mindestdokumentationsstandard die Grundlage für Meldungen an das zentrale Notaufnahmeregister. AKTIN verfolgt hierbei einen dezentralen Ansatz, bei dem die Daten in den einzelnen Kliniken und damit im Behandlungskontext bleiben. Erfolgt eine Anfrage für eine wissenschaftliche Fragestellung, so werden unter Wahrung des Datenschutzes nur die erforderlichen Daten anonymisiert und zusammengeführt. Im Ergebnis schafft AKTIN mit dem Notaufnahmeregister eine elektronische Infrastruktur, die als Werkzeug zur Optimierung des Qualitätsmanagements in den Notaufnahmen, zur grundlegenden Verbesserung der Versorgungsforschung in der deutschen Akutmedizin und als Basis von Surveillancemaßnahmen dienen kann.

Welche Schlüsse lassen sich aus dem AKTIN-Projekt für die Digitalisierung der Notfallmedizin und des gesamten deutschen Gesundheitswesens ziehen? Welche Strukturen müssen hier noch geschaffen werden?

Prof. Dr. Röhrig: AKTIN konzentriert sich auf die innerklinische Akut- und Notfallmedizin. Wenn man den Ansatz des Projekts konsequent zu Ende denkt, wird klar, dass wir dringend einen bundesweit einheitlichen Dokumentationsstandard für die gesamte Versorgungskette des Notfallpatienten brauchen – beginnend bei der Rettungsleitstelle über den Rettungsdienst, Notarztdienst, niedergelassene Ärzte und vertragsärztlichen Notdienst bis hin zu Notaufnahmen, Herzkatheterlaboren und Intensivstationen in Krankenhäusern. Zu jedem Behandlungsfall müssen die entsprechenden, aufeinander abgestimmten Mindestdokumentationsstandards erhoben und kommuniziert werden, um relevante Informationsverluste an den Schnittstellen zu vermeiden und eine übergreifende Auswertung zu ermöglichen. Für die Umsetzung ist eine nationale Stelle notwendig, die auch die Kontrolle des medizinischen Vokabulars (Value Set Authority) vornimmt.

Die vertragsärztliche, rettungsdienstliche und ambulante sowie stationäre Notfallversorgung müssen sektorenübergreifend in die Qualitätssicherungsmaßnahmen einbezogen werden. Vor diesem Hintergrund ist es notwendig, eine Infrastruktur zu schaffen, mit der man Daten aller Versorgungspartner inklusive der Rettungsleitstellen in einer nationalen Einrichtung, die noch geschaffen werden muss, zusammenführen kann. Denn nur wenn man die gesamte Versorgungskette betrachtet, ist eine individuelle Bewertung der einzelnen Versorgungsglieder möglich.
Mit Blick auf das gesamte Gesundheitswesen sollte das Ziel sein, nur noch die international etablierten, offenen Kommunikationsstandards für die ärztliche Dokumentation zu nutzen, insbesondere HL7-CDA, HL7-FHIR, IHE und natürlich SNOMED CT. Dazu ist es notwendig, dass Deutschland Mitglied in der International Health Terminology Standards Development Organisation (IHTSDO) wird, der Organisation, die SNOMED CT pflegt und herausgibt. Mit einer nationalen Mitgliedschaft sind sowohl die Nutzungsrechte für SNOMED CT verbunden als auch das Recht, eigene, nationale Konzepte dort einzubringen. Ich halte es aus wissenschaftlicher, wirtschaftlicher und vor allem der Versorgungsperspektive für notwendig, dass die Bundesrepublik Deutschland zeitnah Mitglied wird. Es kann nicht sein, dass alle von Digitalisierung reden, wir aber im Bereich der Basis jeglicher Interoperabilität von unseren Nachbarn Dänemark, Holland, Belgien, Schweiz und Polen abgehängt werden.
Ein weiteres Problem bei der Einführung von Standards ist der Effekt, dass Standards den Empfängern von Informationen nutzen, der Aufwand aber an der Datenquelle entsteht. Es bedarf der Regulation durch eine übergeordnete Instanz, um die lokalen Optimierungseffekte an den Datenquellen zu überwinden. Hier können wir von dem Meaningful Use Program der USA lernen, welches mit einem Bonus-/Malus-System erfolgreich die Verbreitung von Dokumentations- und Kommunikationsstandards unterstützt hat.

 

Wie sieht die Zukunft von AKTIN aus?

Prof. Dr. Walcher: Die Projektförderung des BMBF, die uns ermöglicht hat, das AKTIN-Notaufnahmeregister aufzubauen, läuft Ende Oktober 2019 aus. Im Rahmen des Projekts haben wir jedoch eine Infrastruktur geschaffen, die nicht nur dem wissenschaftlichen Erkenntnisdrang dient, sondern auch eine wichtige Rolle für die Verbesserung der Versorgung der Patienten spielen kann. Das Sammeln, Aufbereiten und Bereitstellen der notwendigen Daten für das Qualitätsmanagement in der Notfallversorgung ist eine öffentliche Aufgabe, die dem Gemeinwohl dient. Aus unserer Sicht sollte die Infrastruktur des Notaufnahmeregisters daher dringend durch die öffentliche Hand verstetigt werden. Die Weiterführung des Registers ließe sich hervorragend bei der von Herrn Röhrig skizzierten nationalen Qualitätsstelle für die Notfallversorgung ansiedeln. Dabei sollten die bisher beteiligten medizinischen Fachgesellschaften, maßgeblich die DIVI, als Kooperationspartner einbezogen werden.

Quelle Text und Bild: TMF