Der Blasenkatheter – mehr als nur Schlauchware

(Juli 2020) Kaum ein Medizinprodukt kann auf eine so lange Entwicklungsgeschichte zurückblicken wie der Blasenkatheter. Das heute gebräuchliche Grundmodell ist der in den 1930er Jahren entwickelte „Ballonkatheter“. Latexkatheter kommen nur noch bei Kurzzeitableitungen zum Einsatz, bei längeren Liegezeiten dominieren Silikon-, PU- und PVC-Katheter den Markt.

Das Risiko schwerer Komplikationen in Folge einer Katheterisierung ist hoch. Immer noch werden zahlreiche Anstrengungen vorgenommen, um die Funktionalität und Biokompatibilität zu steigern. Die Massenherstellung von Standardkathetern bei geringer Produktdifferenzierung verlagert sich zunehmend in Niedriglohnländer. Für Hersteller in Hochlohnländern kann sich ein Markt für Spezialprodukte und kundenindividuelle Lösungen etablieren.

Die Blasenkatheterisierung – seit der Frühantike durchgeführt – ist eine der ältesten therapeutischen Interventionen. Kaum ein Medizinprodukt kann auf eine so lange Entwicklungsgeschichte zurückblicken. Die heute gebräuchlichen Grundmodelle für Blasenkatheter wurden in den frühen 1900er Jahren entwickelt: für die Kurzzeitableitung der ohne Rückhaltesystem ausgestattete „Gibbon-Walsh“-Katheter und der für die Dauerableitung konzipierte „Ballonkatheter“ („Foley-Katheter“). Der moderne Wegwerfkatheter für den intermittierenden Katheterismus wurde in den 1940er Jahren erfunden.

Hochwertiger 2-lumiger Foley-Katheter aus Silikon; A : trichterförmiger Anschluss für Urinsammelbeutel, B : Ventil zur Befüllung des Blockballons mit steriler Flüssigkeit (8-10prozentige Glycerol- Wasser-Lösung oder steriles Aqua dest.) und internationale Farbkodierung für den Aussendurchmesser (hier: lila = 22Ch = 7,3mm), C : blasenseitige Abflussaugen. Quelle: Medicoplast International GmbH

Mit dem Aufkommen aseptischer OP-Techniken um 1900 konnte die Harndrainage zunehmend nicht nur transurethral, sondern auch unter Umgehung der empfindlichen Harnröhre infektionsarm perkutan-suprapubisch erfolgen – über eine künstlich angelegte Öffnung („Fistel“) in der Bauchdecke. Ein suprapubischer Katheter wird heute bevorzugt gelegt, wenn eine Langzeitdrainage (>5d) notwendig ist.

Blasenkatheter sind ein Massenprodukt mit einem für das Jahr 2024 geschätzten Volumen von weltweit 5,51 Milliarden US-Dollar[1]. Seit jeher ist er in Akutsituationen lebensrettend und in unzähligen klinischen Situationen unersetzlich, dennoch ist er sicherlich auch eines der meist unterschätzten Medizinprodukte im klinischen Alltag.

Immer noch hohe Komplikationsraten – zahlreiche Anforderungen

Das Einsatzgebiet des als Medizinprodukt der Klasse IIa („Mittleres Risikopotenzial“) eingestuften und oftmals nur als „einfacher Schlauch“ verkannten Hightech-Produkts „Blasenkatheter“ erfordert hohe Ansprüche an die Biokompatibilität und Funktionalität. Seine Herstellung stellt hohe Anforderungen u.a. an die Kunststoff- und Oberflächentechnologie – auch in Zukunft: Trotz großer Fortschritte in der Medizin und Technik sind die katheterassoziierten Probleme immer noch zahlreich und zum Teil mit einer hohen Morbidität und Mortalität verbunden.

Das Risiko schwerwiegender Komplikationen in Folge einer Blasenkatheterisierung ist insbesondere bei dauerabgeleiteten Patienten immer noch sehr hoch. Neben nichtinfektiösen Komplikationen wie Harnröhrentraumata, Reizungen der Blasenwand, für unbestimmte Zeit in der Blase zurückbleibender Restharn und Harnrückstau, sind Harnwegsinfektionen (HWI) durch körpereigene und -fremde Keime (meist E. coli, Enterococcus spp., P. aeruginosa, Klebsiella spp., Proteus spp., S. aureus, S. Saprophyticusgefährliche) Begleiterscheinungen der Blasendrainage.

Mit Dauer der Katheterisierung und nicht restharnfreier Blasenentleerung steigt die Gefahr primärer sowie sekundärer HWIs (Urethritis, Prostatitis, Zystitis, Epididymitis, Orchitis und Pyelonephritis, Endokarditis, septische Arthritis, Osteomyelitis, Endophthalmitis, Meningitis; im ungünstigsten Fall Bakteriämie und Urosepsis mit hoher Mortalität). Ebenso möglich ist die Ausbildung von gefährlichen bakteriellen Biofilmen und Inkrustationen (→ „kristalliner Bakterienbiofilm“).

Massive Inkrustationen im Spitzen- und Ballonbereich eines Blasenkatheters (Quelle: privat / Autoren)

Die auf der Implantatoberfläche adhärierenden Erreger bilden synergetische Lebensgemeinschaften Biofilme, die ihnen helfen, Nährstoffe zu akkumulieren und wieder zu verwenden, Signale und Gene auszutauschen, ihr Wachstum zu beschleunigen sowie ihre Abwehrfähigkeit gegenüber Antibiotika drastisch zu erhöhen. Bei unzureichender Antibiose muss mit einer erhöhten Resistenz der überlebenden Spezies gegenüber den verabreichten Medikamenten gerechnet werden.

Fast immer stellen sich die Komplikationen als Ergebnis einer Verkettung mehrerer Faktoren der individuellen Patientensituation dar. Der Anforderungskatalog an einen idealen Katheter ist folglich umfassend; die gleichzeitige Realisation aller Anforderungen in einem einzigen Produkt scheint derzeit unmöglich.

Preisgünstige Latex- und PVC-Katheter kommen aufgrund ihrer hohen Inkrustationsneigung (Latex) und der möglicherweise allergieauslösenden bzw. weichmacherfreisetzenden proinflammatorischen Eigenschaften nur noch bei intermittierendem Einmal- bzw. Selbstkatheterismus oder als Urodynamik-Messkatheter sowie bei Kurzzeitableitungen – dann in der Regel silikonbeschichtet – von bis zu fünf Tagen zum Einsatz.

Bei hochwertigen Produkten und bei Kathetern für längere Liegezeiten dominieren latex-, weichmacher- und PVC-freie Lösungen auf Silikon-, Polyurethan (PU)- und Polyolefin-Basis den Markt. Sie werden von den meisten Anwendern gut vertragen und weisen eine ausreichende bis hohe Biokompatibilität (Silikon) auf. Viele Produkte sind für eine Liegedauer von bis zu 40 Tagen zugelassen, aufgrund der potentiellen Komplikationen müssen sie in der Regel jedoch früher getauscht werden.

Verschiedene Spitzentypen (gerade steif, gerade flexibel, 30° abgeknickt) wurden entwickelt, um das Einführen zu erleichtern und damit Harnröhrentraumata bei unterschiedlichen Krankheitsbildern wie urethrale Verengungen oder spastischer Beckenboden zu reduzieren.

Hohe Qualität bedarf der sorgsamen Herstellung

Bis ein einsatzfähiger „Standard“-Ballonkatheter vorliegt, müssen zahlreiche Produktionsschritte, zum Teil aufwendig in Handarbeit, durchlaufen werden. Ausgehend von Grundmaterialien, welche die Anforderungen der VDI-Richtlinie „Medical Grade Plastics“ bezüglich der Biokompatibilität erfüllen, wird der extrudierte Schlauchrohling sorgsam Schritt-für-Schritt zu einem hochwertigen Blasenkatheter veredelt und nach seiner Verpackung mit Ethylenoxid Gas sterilisiert.

In der Medizintechnik gelten hohe und strenge Qualitätsanforderungen zur Herstellung der Produkte, deren Einhaltung regelmäßig von benannten Stellen geprüft wird. Für definierte Reinheitsgrade des Ausgangsgranulats, festgelegte Wandstärken, physikalische Eigenschaften des Schlauchs sowie der nanometerdicken funktionalisierenden Oberflächenveredlung gibt es nur geringe zulässige Toleranzen im Herstellungsprozess.

Zahlreiche Lösungsansätze – Durchbruch nicht in Sicht

Verschiedene innovative medizintechnische Lösungsansätze jenseits der Standardvarianten wurden entwickelt, um das Risiko von Komplikationen zu reduzieren. Vielfältige Bauarten sowie unterschiedliche Material- und Oberflächenmodifikationen konkurrieren. Beschichtungen und Imprägnierungen des Katheters dienen der Verbesserung der Gewebeverträglichkeit und insbesondere einer gesteigerten Abwehr der Keimanhaftung sowie der Wachstumshemmung. Hydrophile Beschichtungen und Wirkstoffankopplungen (Funktionalisierung) sind dabei die häufigsten Strategien. Eine „Universallösung“ zeichnet sich jedoch nicht ab, da sich die einzelne Krankheitssituation zu individuell darstellt.

Alternativen noch mit geringer Marktpräsenz

Die Marktverfügbarkeit vieler Alternativkonzepte ist gering. Dies ist u.a. den höheren Herstellungskosten und damit auch höherem Einkaufspreis aber auch dem geringen Zeitbudget im Medizinsektor geschuldet. Letzteres behindert die systematische Suche nach der besten Produktlösung für den jeweiligen Patienten.

Intensive F&E-Tätigkeit zur Verminderung der Ursachen und Folgen der Komplikation hat zu einem nahezu unüberschaubaren Angebot an Konzepten geführt. Dadurch ist es, insbesondere unter Berücksichtigung steigender ökonomischer Beschränkungen, zunehmend schwer, für einen bestimmten Patienten das für diesen klinisch beste Produkt zu finden.

Beispiel Restharnprophylaxe

Mehrere Arten von Rückhaltesystemen sowie unterschiedliche Anzahl und Anordnungen der Abflussaugen am blasenseitigen Katheterende wurden entwickelt. Der „Foley“-Katheter, mit seinem den Katheterschlauch symmetrisch umschließenden Ballon, ist das mit Abstand weitverbreitete Modell am Markt. Er ist relativ leicht zu produzieren, aber aufgrund seiner Bauform anfällig für Restharnbildung, einer der Hauptauslöser von Komplikationen.

Ein Beispiel für eine innovative Weiterentwicklung des bewährten Ballonkatheters ist der Rocco®-Katheter mit seinem „Halb“-Ballon und vier speziell angeordneten Abflussöffnungen. Dieses Konzept vereint die dem Arzt bzw. Assistenzpersonal vertraute einfache Bedienbarkeit des Blockmechanismus mit einer optimalen Kombination aus Rückhaltekraft und erhöhte Abflusssicherheit.

Rocco® -Katheter mit asymmetrischem, halbseitigem Ballon. Neben den auch am Foley-Katheter üblichen Abflussaugen (A) oberhalb des Ballons, befinden sich beim Rocco-Katheter zusätzlich zwei Abflüsse (B, C) ober- und unterhalb des Ballonäquators, wodurch eine Restharnbildung nahezu ausgeschlossen ist. Quelle: Medicoplast International GmbH

Produktentwicklung – Innovationskraft und Flexibilität sind gefordert

Alternativen zum Blasenkatheter sind nicht in Sicht. Die Versorgung des Patienten mit der jeweils für ihn optimalen Drainage-Lösung muss das Ziel der Krankenversorgung sein.

Die Herstellung von Standardkathetern bei geringer Produktdifferenzierung verlagert sich zunehmend in Niedriglohnländer.

Für Hersteller in Hochlohnländern kann sich, auch unter Beachtung gesundheitsökonomischer Aspekte, ein Markt für Spezialprodukte und kundenindividuelle Lösungen etablieren. Zunehmend in den Fokus der F&E-Anstrengungen bei der Produktentwicklung geraten lebensqualitätssteigernde und patientenindividualisierte Lösungen, und nicht zuletzt ein gesteigerter Umweltschutzgedanke.

Es ist denkbar, dass als Folge der aktuellen Corona-Pandemie ein gesellschaftliches Umdenken bezüglich der Produktionsverlagerungen in Niedriglohnländer im außereuropäischen Ausland, zumindest im Medizinsektor, einsetzt und mittelfristig die innovationsstarken europäischen KMU-basierten Medizinproduktehersteller wieder einen größeren Marktanteil einnehmen werden.

Den gesamten Artikel mit weiteren Tabellen lesen Sie in der Printversion der MT lesen, Heft 4/2020, die am 21. August 2020 erscheint!

Quelle Bild: 2x Medicoplast und 1x privat/Autoren

Quelle Text: Norbert Laube, Christian Fisang, Florian Klein

[1] https://www.grandviewresearch.com/press-release/global-urinary-catheters-market. Zugriff 05. Februar 2020