Erfolgsfaktor R&D bei der Produktentwicklung in der Medizintechnik

(Oktober 2020) Der Markt für Medizintechnik hat sich als integraler Bestandteil der Gesundheitsindustrie etabliert, da fortschrittliche Medizingerätetechnologien greifbare Vorteile bieten. Sie legen den Grundstein für neue Dienstleistungen wie die Möglichkeit, Vitalparameter von Patienten einfacher und dauerhafter zu überwachen, was kürzere Genesungszeiten unterstützt. Sieben zentrale Herausforderungen bei der Entwicklung  zeigt dieser Artikel.

Die Zukunft des Marktes für medizinische Geräte, sowohl für den klinischen als auch für den Bereich „Home Care“, sieht vielversprechend aus. Marktprognosen erwarten, dass er bis 2025 ein geschätztes Volumen von 432,6 Milliarden Dollar erreichen wird. Dank des Fortschritts in Wissenschaft und Technologie haben die Hersteller von medizinischen Geräten heute mehr Möglichkeiten denn je. Gleichzeitig stehen sie aber auch vor neuen Herausforderungen. Von steigenden Materialkosten bis hin zu Fragen der Qualitätskontrolle, einem wachsenden Wettbewerb und der Notwendigkeit einer beschleunigten Markteinführung sowie neuen Compliance-Anforderungen gibt es eine Reihe von Faktoren, die diese Unternehmen beachten müssen. Als Experte für Forschung und Entwicklung auf dem Gebiet der Medizintechnik hat Bittium die wichtigsten Herausforderungen beim Design medizinischer Geräte und wichtige Schritte zur Bewältigung aktueller Anforderungen zusammengefasst.

Die neuen EU-Verordnungen für medizinische Geräte werden im Mai 2021 vollständig in Kraft treten. Laut diesen Vorschriften müssen Hersteller von Geräten mit medizintechnischen Funktionen eine Reihe strenger Anforderungen erfüllen, um ihre Produkte zertifizieren zu lassen. Viele Medienberichte konzentrieren sich momentan auf den Trend mobil vernetzter Geräte. Die neuen Verordnungen machen es jedoch notwendig, auch einen Blick auf die grundlegenderen Herausforderungen zu werfen, die Bereiche wie Materialeinsatz, mechanische Konstruktion, Sicherheitsanforderungen oder Support über die gesamte Lebensdauer eines Geräts betreffen.

Nehmen wir als Beispiel ein typisches mobiles Gerät, das Vitalparameter eines Patienten, wie Körpertemperatur, Blutdruck, EKG, Sauerstoffsättigung oder Atemfrequenz über Sensoren überwacht. Bei der Entwicklung eines solchen Geräts sind dies typische Herausforderungen:

Thermische Steuerung

Medizinische Geräte unterliegen strengen Sicherheitsstandards und Anwendungsrichtlinien für thermische Bedingungen. Die Oberflächentemperatur für medizinische Geräte wird durch die Norm IEC60601-1 geregelt. Für Geräte, die die Haut eines Patienten berühren, bedeutet dies, dass die Oberflächentemperatur des Geräts unter einem bestimmten Wert bleiben muss, der von der genauen Anwendung des Geräts abhängt. Thermische Simulationen sind ein integraler Bestandteil des Designprozesses. Sie können helfen, „Hotspots“ zu identifizieren – also Stellen, an denen das Gerät besonders warm wird. In diesem Fall kann die Konstruktion des Geräts angepasst werden, um die Wärme gleichmäßiger zu verteilen. Alternativ können Materialien für bestimmte Komponenten ausgetauscht werden.

Im heutigen Wettkampf, um eine schnelle Markteinführung oder um der Konkurrenz zuvorzukommen, bieten fortschrittliche Simulationsmöglichkeiten einen beträchtlichen Vorteil, da sie bereits in einem frühen Entwicklungsstadium virtuell und ohne die Notwendigkeit von Prototypen durchgeführt werden können. Auf diese Weise ist es möglich, innerhalb eines kurzen Zeitrahmens verschiedene Materialien und Konstruktionsanordnungen auszuprobieren, um zu sehen, wie sie die Oberflächentemperaturen beeinflussen.

Auswahl der Materialien

Die Materialauswahl gehört typischerweise zu den ersten Schritten bei der Konstruktion eines Geräts. Medizintechnische Geräte erfordern häufig die Verwendung nicht allergener Materialien, die sehr widerstandsfähig sind und eine hohe Beständigkeit gegenüber häufiger Reinigung oder dem Kontakt mit Chemikalien aufweisen. Darüber hinaus muss das Material für die Übertragung von Hochfrequenzsignalen möglicherweise HF-transparent sein. Die einfachste Lösung, um sicherzustellen, dass die Materialauswahl alle Compliance-Anforderungen erfüllt, ist die Verwendung von Materialien, die für den medizinischen Gebrauch vorzertifiziert sind. Die Zusammenarbeit mit einem R&D-Team, das über eine umfassende Materialdatenbank sowie über die oben beschriebenen Simulationsmöglichkeiten verfügt, kann den Materialauswahlprozess erheblich vereinfachen und beschleunigen.

Mechanische Belastbarkeit

Die lange Lebensdauer vieler medizinischer Geräte stellt eine Herausforderung für ihre mechanische Belastbarkeit dar. Probleme, die durch die Qualität der Mechanik (das Design und/oder den Herstellungsprozess) verursacht werden, können unerwünschte Belastungen verursachen. In Verbindung mit Chemikalienkontakt im täglichen Gebrauch führt das häufig zu Brüchen oder Frakturen am Gerät. Ein sorgfältig durchdachtes Design, kompetente Hersteller und gründliche Tests können dies verhindern.

Neben der optischen Attraktivität des Designs sind im medizinischen Bereich besonders die Qualitätssicherung und -beurteilung von entscheidender Bedeutung.

Schutz vor elektrischer Gefährdung

Zugängliche Teile des Geräts müssen gemäß der Norm IEC60601-1 gegen Kriechstrom geschützt werden. Die Norm enthält spezielle Merkmale für medizintechnische Geräte, die sich stark von den Vorgaben für Konsumgüter unterscheidet. Wenn während des Design-Prozesses ein Risiko von Ableitstrom festgestellt wird, müssen zugängliche leitende Teile der Hardware ausgetauscht oder mit zusätzlichen Komponenten gesichert werden, um dies zu verhindern. Darüber hinaus benötigen medizinische Geräte eine Messfunktion für den Kriechstrom und einen Kontrollmechanismus, sodass sich das Gerät automatisch abschaltet, wenn Ableitstrom auftritt oder bestimmte Grenzwerte überschreitet.

Industrielle und mechanische Designlösungen

Sehr spezifisch für medizinische Geräte ist die Vorgabe, dass sie leicht zu reinigen sein müssen, ohne dass Rückstände verbleiben. Die Geräte werden in der Regel für mehrere Patienten eingesetzt. Eine gründliche Reinigung zwischen einem Patientenwechsel ist erforderlich. Ein wichtiger Punkt ist es daher, dass die Geräte bestimmte IP-Klassifizierungen erfüllen. Wasserfestigkeit ist dabei besonders wichtig, da die Geräte beispielsweise mit antibakteriellen Flüssigkeiten gereinigt werden. Zu den Voraussetzungen für eine einfache Reinigung gehört auch ein Design ohne schwer zugängliche Ecken und Spalten, in denen sich Rückstände ansammeln könnten.

Weitere Bereiche des mechanischen Konstruktionsprozesses können durch den Einsatz von FEM-Berechnungen (Finite-Elemente-Methode), Falltestsimulationen, Eindringschutz- und Lichtleitersimulationen erleichtert werden. Wenn diese Bereiche in einem frühen Stadium des Designprozesses einbezogen und durch Simulationen zum Nachweis des Designs unterstützt werden, wird das gewünschte Qualitätsniveau schneller erreicht, was wiederum den Weg für Kosteneinsparungen und eine schnellere Markteinführung ebnet.

Fehlermöglichkeiten und Auswirkungen

Medizinische Geräte müssen für den Anwender auch unter „Einzelfehlerbedingungen“ (Single Fault Conditions – SFC) sicher bleiben, wie in der IEC60601-1 festgelegt. Das bedeutet, dass im Falle des Auftretens einer einzelnen anormalen äußeren Bedingung oder des Versagens eines einzelnen Schutzmittels gegen eine Gefahr kein Sicherheitsrisiko entstehen darf. Situationen hierfür sind unter anderem die Unterbrechung des Schutzleiters oder eines Versorgungsleiters, das Auftreten einer externen Spannung an einem Anwendungsteil sowie das Versagen der Basisisolierung oder von Temperaturbegrenzungseinrichtungen. Aufgrund der strengen Vorschriften ist die Durchführung einer „Fehler-Möglichkeits- und Einfluss-Analyse“ (FMEA) ein wesentlicher Bestandteil des Entwurfsprozesses eines Geräts.

Lebenszyklus-Management

Der Lebenszyklus von medizinischen Geräten kann in einigen Fällen mehr als zehnmal länger sein als der von Konsumgütern. Heutzutage werden jedoch für einige Designbereiche in beiden Kategorien die gleichen Komponenten oder Technologien verwendet. Dies stellt das Design von Medizinprodukten vor Herausforderungen. In der Praxis müssen die kritischsten Komponenten so ausgewählt werden, dass die Verfügbarkeit der Komponenten während des gesamten Lebenszyklus des Produkts gesichert ist. Ein systematisches Lebenszyklusmanagement beinhaltet eine umfassende Second-Source-Richtlinie für alle Komponenten, die gemeinsam mit allen beteiligten Parteien, von der Konstruktion bis zu den Komponentenlieferanten, verwaltet wird.

„Intelligent konstruierte medizintechnische Geräte leisten einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Produktivität und Effizienz im Gesundheitswesen sowie zur Qualität der Patientenversorgung selbst“, erklärt Jari Inget, Direktor Connectivity Solutions bei Bittium. „Gleichzeitig sehen sich Geräteentwickler und -hersteller einem harten Wettbewerb von Seiten traditioneller Akteure sowie neuer Marktteilnehmer aus dem Konsumgütermarkt ausgesetzt. Ein qualitativ hochwertiger R&D-Prozess, um die strengen regulatorischen Anforderungen zu erfüllen und eine schnelle Markteinführung zu realisieren, kann heute der entscheidende Faktor für den Erfolg eines medizintechnischen Geräts sein“.

Quelle Text und Bild: Bittium