Europäischer Gesundheitskongress München: Mut zu großen Reformen gefordert

(Oktober 2021) Endlich wieder real vor Ort austauschen: Das Programm des Europäischen Gesundheitskongress München stand unter dem Motto „Der Beginn einer neuen Ära im Gesundheitswesen: robust, digital, patientendemokratisch“. Ob Krankenhausstrukturen, Digitalisierung oder Pflege: Über alle Themen hinweg wurden grundlegende Reformen gefordert.

Ein „Weiter so“ ist keine Option mehr. Von der nächsten Regierung wurde mehr Mut zu großen Reformen gefordert.

Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek appellierte in der Eröffnungsveranstaltung, das Gesundheitswesen neu zu justieren. Die Politik dürfe nicht weiter in Trippelschritten vorangehen, so der CSU-Politiker. So sei etwa bei der Digitalisierung eine fundamentale Diskussion nötig, unter anderem über den Umgang mit den Gesundheitsdaten. „Es kann nicht sein, dass die Amazons und Googles dieser Welt sich zu großen Gesundheitsunternehmen und Forschern entwickeln und wir nur noch hinterherlaufen“, kritisierte er. Holetschek plädierte für eine neue Balance zwischen dem Datenschutz und der Nutzung der Gesundheitsdaten. Es müsse klar sein, dass „diese Daten ein ganz wichtiger Bestandteil sind, wenn wir vorne dabei sein wollen.“ Daneben nannte er auch den Klimaschutz als wichtiges Element, das eng zur Gesundheit gehört. Dabei dürfe diese nicht nur von der Finanzierung her, sondern müsse vom Patientennutzen aus gedacht werden. Auf seinen Satz: „Veränderung…, wenn nicht jetzt, wann dann?“ ergänzte Kongresspräsident Einhäupl: „… wenn nicht wir, wer dann?“ und „Patientendemokratisch heißt nicht nur patientenzentriert, sondern mehr!“

Prof. Dr. Jörg Debatin, Leiter des Health Innovation Hub des Bundesgesundheitsministeriums, mahnte an, den deutschen Datenschutz nicht zu bereitwillig „auf dem Altar der Technologie“ zu opfern. „Ich glaube, dass die Werte, die unserem Datenschutzverständnis zugrundeliegen, etwas sind, was uns als Europäer in positiver Weise von den Chinesen oder Amerikanern abhebt“, sagte er. Vielmehr sollte man Lösungen finden, wie man moderne Technologien nutzen und modifizieren kann, ohne diese Werte vollständig aufzugeben.

Anderseits warnte Debatin davor, große Player wie Amazon und Google zu verteufeln. „Wenn wir nicht eine unternehmerische Infrastruktur in Deutschland zur Verfügung stellen, die unseren Werten und unserem Rechtsverständnis entspricht, werden wir in ganz vielen Bereichen den Anschluss an die Welt verlieren“, sagte er. „Wir brauchen die großen Player aus Übersee und wir brauchen auch eigene große Player.“ Sonst drohe Selbstverzwergung

Doch auch innerhalb Europas hat der Datenschutz unterschiedlichen Stellenwert. So berichtete Dr. Nils Anders Tegnell, Staatsepidemiologe der schwedischen Behörde für öffentliche Gesundheit, von einer großen Zustimmung der Bevölkerung bezüglich der Erfassung von Gesundheitsdaten, etwa beim Impfregister. Schwedens Impfregister ist zentral organisiert, zum großen Teil digitalisiert und erlaubt, Nebenwirkungen und Wirksamkeit von Impfungen zu erforschen. Außerdem können Daten von verschiedenen Stellen zusammenführen werden. „Es gab  nicht nur keinen Widerstand aus der Bevölkerung bei der Erfassung von Corona-Impfungen“, berichtete Tegnell. Die Menschen hätten sogar eine noch größere Transparenz gefordert und seien bereit gewesen, noch mehr Daten erfassen zu lassen.

Auch wenn Österreich ein ähnliches Datenschutzverständnis pflegt wie Deutschland, entschied man sich jedoch etwa bei der elektronischen Patientenakte – anders als hierzulande – für ein Opt-Out-Modell, wie Dr. Winfried Pinggera, Generaldirektor der österreichischen Pensionsversicherungsanstalt berichtete. „Ich glaube, Patienten sind  mündig genug  für ein Opt-Out-Modell“, betonte er.  Das Ergebnis: Während in Deutschland gerade einmal 0,2 Prozent der gesetzlichen Versicherten die elektronische Patientenakte nutzen, sind 97 Prozent der Österreicher dabei. Demnach haben nach Angaben von Pinggera  nur rund drei Prozent der Österreicher die Opt-Out-Karte gezogen.

Auch im Krankenhausbereich seien grundlegende strukturelle Reformen notwendig, darüber herrschte unter den Kongressteilnehmern große Einigkeit. Darüber, wie die Krankenhauslandschaft künftig aussehen sollte, gingen die Meinungen naturgemäß auseinander. Prof. Dr. Jens Scholz, Vorstandsvorsitzender des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein und 1. Vorsitzender des Verbands der Universitätsklinika Deutschlands e.V., plädierte etwa für eine Auflösung der Sektorengrenzen: „Es kann nicht sein, dass die Krankenhäuser davon abhängig sind, dass die Kassenärztliche Vereinigung erlaubt, einen Patienten ambulant zu behandeln“. Angesichts des Ärztemangels, der besonders den ländlichen Raum treffe, seien „Krankenhäuser gefragt“, sagte er. „Wir brauchen bundeseinheitliche Vorgaben für eine gestufte Krankenhausplanung“, forderte Scholz. „Deswegen brauchen wir Leitplanken, die zu einer gestuften Krankenhausplanung führen, klare Rollen  und Aufgabenzuordnung für Krankenhäuser in einer Region“. Unikliniken sieht er dabei in einer Dirigentenfunktion, die auch im Bereich Digitalisierung vorangehen. Statt Befunden und Arztbriefen in PDF-Form forderte er strukturierte Daten und Interoperabilität sowie einen einheitlichen Broad-Consent für Forschungsdaten und einen sinnvollen, nicht übertriebenen Datenschutz.

Die Kongressleiterin und Geschäftsführerin von WISO S. E. Consulting GmbH, Claudia Küng, zeigte sich zufrieden mit dem Verlauf der hybrid durchgeführten Veranstaltung. „In 18 Monaten Corona-Distanz ist so viel Bedarf an Austausch angewachsen, dass dieser Kongress in Präsenz dringend nötig war“, lautete ihr Fazit. Die Gespräche seien dadurch intensiver und von einer besonderen Freude und Herzlichkeit geprägt. „Der Kongressspirit ist klar gewesen: Lasst uns die Erfahrungen aus der Krise nutzen unser Gesundheitswesen zu verbessern“, führt Küng aus. Wenn nicht jetzt, wann dann?

Der nächste Europäische Gesundheitskongress München findet am 6. und 7. Oktober 2022 statt.

Quelle Text: Europäischer Gesundheitskongress / Mirjam Bauer

Quelle Bild: Mirjam Bauer