Expertengruppe von acatech warnt vor Engpässen in der Medizinversorgung durch neue EU-Regulierung

(Juli 2020) Im Mai 2021 endet die Übergangsfrist der neuen EU-Medizinprodukte-Verordnung. Rund 500.000 Medizinische Geräte und Werkzeuge müssen dann neu zertifiziert werden. Eine Arbeitsgruppe von acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften warnt vor Engpässen in der medizinischen Versorgung.

Bewährte Medizinprodukte wie EKG-Geräte müssen aufwendige Zulassungsverfahren durchlaufen. Die Arbeitsgruppe setzt sich für ein vereinfachtes Re-Zertifizierungsverfahren von Medizinprodukten ein, deren Sicherheit und klinischer Nutzen anhand der Anwendererfahrung evident ist.

Produkte, die in Praxen und Krankenhäusern täglich gebraucht werden, könnten knapp werden, weil sie nicht oder nicht rechtzeitig zertifiziert werden können. Thomas Lenarz, Direktor der Medizinischen Hochschule Hannover und Leiter der Autorengruppe: „Die neue MDR verlangt Wiederzulassung bereits lang am Markt etablierter und bewährter chirurgischer Instrumente mit unverhältnismäßig hohem bürokratischen Aufwand – dies wird zum Verlust dieser Instrumente und damit zu einer Verschlechterung der Patientenversorgung führen.“

Bei Produkten, zu denen keine aktuellen Daten vorliegen, müssen Hersteller für die Wieder- und Neuzertifizierung neue und auch aufwändigere klinische Studien durchlaufen. Betroffen sind beispielsweise EKG-Geräte: Ihre Zertifizierung und die damit verbundenen klinischen Studien liegen teils Jahrzehnte zurück.

Lebenswichtige Nischenprodukte, etwa Herzschrittmacher für Kleinkinder, werden es aufgrund der neuen, aufwändigeren Zertifizierung schwer haben, rentabel zu bleiben. „Die medizinische Versorgung in Deutschland ist durch teils hochspezialisierte kleine und mittlere Unternehmen geprägt. Der erhöhte Aufwand für Neu- und Wiederzulassung wird dazu führen, dass zahlreiche Nischenprodukte für spezielle Anwendungen vom Markt verschwinden“, sagt Herrmann Requardt, Mitglied des acatech Präsidiums.

Die erneute Zulassung von Medizintechnikprodukten wird zu einem noch engeren Nadelöhr, weil sich die prüfungsberechtigten Benannten Stellen im Zuge der Medical Device Regulation erneut zertifizieren lassen müssen. Laut EU-Kommission sind gerade einmal 14 solcher Stellen für die Zeit nach Inkrafttreten EU-Regulierung benannt. Die Benannten Stellen werden weniger, müssen aber mit Einführung der neuen Verordnung zusätzliche Aufgaben übernehmen.

Die Arbeitsgruppe formuliert in ihrem Impuls-Papier Handlungsoptionen, die solche negativen Folgen der Medical Device Regulation minimieren:

– Bestandsschutz: Wo Sicherheit und klinischer Nutzen durch langjährige Nutzung evident ist, sollte es vereinfachte Re-Zertifizierungsverfahren geben.
– Für neue Produkte soll ein schrittweiser Marktzugang unter Beobachtung möglich sein.
– Klare Regeln und produktspezifische Kriterien für die Zertifizierung.
– Die neuen Klassifikationsregeln für Medizinprodukte sollten sinnvoll, also im Sinne einer an klinischer Erfahrung und Notwendigkeit orientierten Klassifikation, eingesetzt werden.
– Benannte Stellen sollten zügig zertifiziert werden.
– Mitglieder von Expertenpanel zur Bewertung und Zertifizierung von Medizinprodukten sollten aufgrund ihrer Kompetenz und unabhängig ausgewählt werden.
– Ein Supportprogramm für kleine und mittlere Unternehmen, klinische Studien und Prüfzentren und vereinfachte Prüfungsverfahren für Nischenprodukte (Orphan Devices) sollten die Vielfalt und Spezialisierung medizintechnischer Geräte sichern.

Quelle Text: acatech – Deutsche Akademie

Quelle Bild: Mirjam Bauer