Herstellerbefragung: Fragen und Antworten auf die MDR

(Juni 2021) Das Verbundvorhaben “Simulationsgestützte Medizintechnikplattform zur individuellen 3D-Hilfsmittelversorgung” (SIGMA3D) erforscht seit einem Jahr, wie sich die europäische Medizinprodukteverordnung (MDR) auf die Sanitätshäuser in Deutschland auswirkt und wie man mit digitalen Lösungen den dadurch erhöhten Dokumentationsaufwand abfedern kann.

Die bislang größte wissenschaftliche Befragung zum Stand der MDR in der Orthopädietechnik kommt nun zu dem Ergebnis, dass es doch noch mehr Herausforderungen gibt als bislang angenommen. Darüber hinaus beantwortet das ebenfalls gerade erschienene MDCG-Dokument zum Thema Sonderanfertigung zwar einige Fragen der Hersteller, wirft aber gleichzeitig viele neue auf. Zudem widerspricht es in zentralen Punkten der bisherigen MDR-Auslegung einiger Branchenvertreter.

MDR-Umfrage belegt Unterstützungsbedarf bei Herstellern von Sonderanfertigungen

145 Unternehmen aus der Hilfsmittelbranche haben an der Befragung “Medical Device Regulation – Wie gut vorbereitet ist die Hilfsmittelbranche?” teilgenommen. Als größte Herausforderungen gelten demnach der Mehraufwand bei der Technischen Dokumentation, höherer Ressourcenaufwand und Kostenanstieg sowie fehlende Klarheit bezüglich der neuen Anforderungen. Als größte Risiken wurden eine durch die MDR bedingte Kostensteigerung, die Verkleinerung des Produktportfolios sowie Probleme bei der Markteinführung innovativer Produkte genannt. Fast jedes zehnte Unternehmen sieht in der MDR eine existenzielle Gefährdung, denn in der Hilfsmittelbranche stellen individuelle Sonderanfertigungen die Regel dar. So gaben in der Umfrage mehr als zwei Drittel der Teilnehmer*innen an, Hersteller von Sonderanfertigungen gemäß Art. 2 Abs. 3 MDR zu sein. Vor allem im Bereich der klinischen Bewertung und Nachbeobachtung sehen die Befragten noch Herausforderungen:

>        Knapp 60 Prozent fordern Unterstützung bei der klinischen Bewertung und Nachbeobachtung.
>        Etwa 80 Prozent der Hersteller von Sonderanfertigungen befürworten eine automatische Erstellung verschiedener Bestandteile der Dokumentation.
>        Nahezu jedem zweiten Unternehmen fehlen die personellen Ressourcen für die Umsetzung der geänderten Anforderungen
>        Jedem fünften Hersteller mangelt es an finanziellen Ressourcen.

Weitere Ergebnisse der Befragung: fh-muenster.de/phy/labore/biomechatronik/mdr-umfrage.php

Mehrwert durch digitale Plattform als Unterstützung bei Dokumentation nach MDR

Die Umfrage belegt, dass für das Gelingen des Gesamtvorhabens SIGMA3D die regulatorische Absicherung entlang der gesamten Prozesskette eine kritische Voraussetzung ist. Das Vorhaben versucht daher, mit seiner digitalen Plattformlösung die Orthopädietechnik Werkstätten bei der Dokumentation und dem Risikomanagement zu unterstützen und sich nahtlos in bestehende Qualitätsmanagementsysteme einzugliedern. Im Zentrum steht dabei die Ermöglichung einer personalisierten Patientenversorgung, auch unter der MDR und ohne großen Mehraufwand für die Orthopädietechnikfachkräfte. Konkret erfolgt eine digitale Qualitätsprüfung durch validierte, virtuelle Belastungs- und Funktionstests. Mittels leistungsstarker Computersimulationen, bereitgestellt durch CADFEM Medical, kann so eine Prognose zur Haltbarkeit oder Funktionalität einer individuellen Orthese bereits vor der Herstellung getroffen werden. Diese Prüfungen erfolgen über die Mecuris Solution Platform (MSP) und liefern einen wertvollen und kostengünstigen Zeitgewinn für die Erstellung der Produktdokumentation. Zusammengefasst ermöglicht die SIGMA3D-Plattformlösung erstmalig:

> eine validierte, virtuelle Prüfung personalisierter Medizinprodukte nach dem neuesten Stand der Technik
> eine automatisierte Dokumentation der virtuellen Prüfung nach den gültigen regulatorischen Vorgaben (FDA & EU Benannte Stellen)
> eine schnelle, vergleichende Prüfung verschiedener Hilfsmittel-Varianten im Vorfeld der Fertigung

(Teil-)Antworten zur Auslegung der MDR durch die MDCG

Die Plattformlösung wird aufgrund der regulatorischen Unsicherheiten unter ständiger Beobachtung des sich entwickelnden Rechtsrahmens entwickelt, wie das folgende Beispiel verdeutlicht. Die von der MDR geforderte Koordinierungsgruppe Medizinprodukte (MDCG) veröffentlichte kürzlich ein Q&A-Dokument zum Thema Sonderanfertigungen. Darin werden die gestiegenen Anforderungen verdeutlicht. In Frage 8 heißt es: „Hersteller von Sonderanfertigung müssen fast alle Anforderungen der MDR erfüllen.“ Das betrifft vor allem die Herstellerpflichten zur Dokumentation, zur Etablierung eines Qualitätsmanagementsystems sowie zur Überwachung nach dem Inverkehrbringen. Gleichzeitig bleiben bekannte Unklarheiten bestehen, während neue entstehen:

> In der MDR bisher nicht verwendete Definitionen wie „patient-matched medical devices“ und „adaptable medical devices“ werden ohne Erklärung aus dem internationalen Kontext (IMDRF) eingeführt.
> Es wird impliziert, dass Sonderanfertigungen den bestehenden Risikoklassen zugeordnet werden, obwohl ebensolche Produkte gemäß MDR eine eigene Klasse bilden.
> Die für viele Hersteller grundlegende Frage, ob der 3D-Druck zu den industriellen Verfahren zählt, wird nicht abschließend beantwortet.

Stellungnahmen zur MDCG-Leitlinie “Sonderanfertigung” erwartet

Es ist zu erwarten, dass die Europäische Kommission einige der von der MDCG erstellten Leitlinien als Gemeinsame Spezifikationen verabschieden wird. Gemeinsame Spezifikationen müssen gemäß Art. 9 MDR von Herstellern eingehalten werden, so dass dadurch MDCG-Dokumente rechtlich bindend werden. Es bleibt zu hoffen, dass das Dokument „Questions and Answers on Custom-Made Devices“ der MDCG bis dahin noch eine Überarbeitung erfährt.
Nicht zuletzt widerspricht das veröffentliche MDCG-Dokument der bisherigen Auslegung der MDR durch die Interessenverbände aus der Orthopädietechnik. Daher ist seitens der Branchenvertreter mit kritischen Auseinandersetzungen mit dem MDCG-Dokument zu rechnen. Insgesamt wirft der Entstehungsprozess der MDCG Dokumente viele Fragen hinsichtlich Transparenz, Expertenbeteiligung und Qualitätssicherung auf. Daher wurde hier nicht nur in Zusammenhang mit dem Projekt SIGMA3D Handlungsbedarf erkannt. Weitere Veröffentlichungen der Projektpartner über die regulatorischen Vorgaben für personalisierte Medizinprodukte in Europa sind in Planung.

Quelle Bild und Text: Mecuris GmbH