Innovationsstandort Deutschland: Made in Germany ist kein Selbstläufer

(Februar 2023) Medizintechnik ist ein internationaler Wachstumsmarkt mit erwarteten jährlichen Steigerungsraten von 4,95 Prozent. In Europa liegen die deutschen Medizintechnikunternehmen mit großem Abstand an erster Stelle, weltweit auf Platz vier

Die deutschen Unternehmen erwarten einen Gesamtumsatz von 34,17 Mrd. Euro – und stehen damit nur knapp hinter Japan. Wie stark sich die deutsche Wirtschaft im Zukunftsmarkt Medizintechnik weiter behaupten wird, hängt ganz wesentlich von ihrer Innovationsstärke ab. Start-ups spielen dabei eine wesentliche Rolle – vor allem, wenn es ihnen gelingt, auch international Fuß zu fassen.

Der Schritt in die dynamischen Märkte Nordamerikas und Südostasiens ist jedoch eine große Herausforderung. Ein Start-up, das bereits umfangreiche Erfahrungen auf internationalem Parkett gesammelt hat, ist apoQlar.

Seit der Gründung im Jahr 2017 entwickelt das Unternehmen mit Sitz in Hamburg eine 3D-Mixed-Reality-Plattform auf der Basis verschiedenster bildgebender Verfahren wie MRT oder CT. Ihre Software VSI HoloMedicine® ist als Medizinprodukt unter anderem in der EU (CE Class 1), den USA (FDA 510(k) Class II) und Singapur (HSA Class A) zugelassen. Die innovative Lösung kommt beispielsweise bei der OP-Vorbesprechung und -planung, der medizinischen Ausbildung und zur Verbesserung der weltweiten Zusammenarbeit von Medizinern zum Einsatz. Mit Hilfe einer Mixed-Reality-Brille sehen Chirurginnen und Chirurgen beides: die reale Umgebung und ein transparentes Hologramm. apoQlar nutzt dabei künstliche Intelligenz, um beispielsweise das Skelett oder die Blutgefäße eines Patienten separat darzustellen und so die Ausbildung und das Training von Studenten zu verbessern. Inzwischen hat das Hamburger Start-up Niederlassungen in Singapur, Miami, London, Neu-Delhi und im polnischen Poznan. Sirko Pelzl, CEO von apoQlar: „Den Markteintritt in Asien zu schaffen, ist fast noch schwieriger als in Europa. Das liegt einerseits an kulturellen Aspekten. Es ging aber auch um sehr spezifische Fragen wie die Zertifizierung von Medizinprodukten – da ist jedes Land unterschiedlich. Inzwischen arbeiten wir in Singapur nach ersten Projekten auch an einer wichtigen 5G-Krankenhausimplementierung mit.“

Mit dieser Erfahrung steht apoQlar nicht allein. „Die Strukturen im Gesundheitswesen unterscheiden sich im internationalen Vergleich grundlegend. Deshalb gehören Fragen zur klinischen Erprobung und regulatorische Vorgaben früh auf die Tagesordnung für die internationale Expansion. Diese Themen müssen Start-ups von Anfang an richtig angehen“, sagt Prof. Matthias Notz, CEO und Managing Director von German Accelerator, einem vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) finanzierten und von der German Entrepreneurship GmbH betriebenen Programm. Es unterstützt die vielversprechendsten deutschen Start-ups bei der internationalen Expansion in die USA und nach Asien durch individuell zugeschnittene Programme, intensive Workshops und den Austausch mit erfahrenen Experten. Die Start-ups erhalten darüber hinaus Zugang zu einem globalen Netzwerk von Geschäftspartnern und Investoren. Auch apoQlar hat bereits mehrere Programme absolviert. Die Teilnehmer erleben dabei eine steile Lernkurve und können so ihre Ziele besonders schnell erreichen. Seit dem Start 2012 haben mehr als 600 Start-ups eines der Programme erfolgreich durchlaufen und bisher insgesamt 13,5 Milliarden US-Dollar an Finanzierung erhalten.

KI hilft bei der Diagnostik

Eines der Start-ups, die mit Unterstützung des German Accelerator gerade am Markteintritt in die USA arbeiten, ist deepc. Das Münchner MedTech-Unternehmen wurde 2019 gegründet. Heute arbeiten über 40 Experten daran, mit Hilfe von KI die radiologische Diagnostik qualitativ zu verbessern und zu beschleunigen.

Dazu bietet die Cloud-basierte KI-Plattform deepcOS Kliniken und radiologischen Praxen Zugriff auf eine Vielzahl von weltweit führenden und regulatorisch geprüften KI-Lösungen. Die Plattform ist datenschutzkonform und verarbeitet anonymisierte Daten. Die Lösung von deepc wird bereits in namhaften Kliniken und Praxen in Deutschland und der Schweiz eingesetzt.

Nun strebt das Unternehmen die internationale Skalierung an, immer mit dem Ziel, ärztliches Arbeiten zu erleichtern und die Patientenversorgung signifikant zu verbessern. Für den Schritt in die USA hatte sich das Start-up beim Life-Sciences-Programm des German Accelerator beworben. „Das Feedback, das wir während der Deep Dives mit German Accelerator erhalten haben, war sehr hilfreich. Die Mentorinnen und Mentoren haben eine hervorragende Expertise auf unserem Gebiet der KI im Gesundheitswesen und in der Radiologie“, sagt Dr. Franz Pfister, CEO bei deepc.

Kaltes Plasma für die Wundheilung

Noch nicht ganz so weit in Sachen Internationalisierung ist das Greifswalder Start-up Coldplasmatech. Es hat sich dem Ziel verschrieben, die Wundbehandlung mit kaltem Plasma zu beschleunigen. Zwar kommt elektrisch geladene Luft schon seit längerer Zeit insbesondere bei chronischen Wunden zum Einsatz. Coldplasmatech ist es jedoch gelungen, die Anwendung entscheidend zu verbessern. Das zertifizierte Medizinprodukt besteht aus einer voll automatischen Steuerungseinheit und einer flexiblen Wundauflage aus dünner Folie, in der mit Hilfe von Strom kaltes Plasma erzeugt wird. Im Plasma entstehen unter anderem Ozon und Stickoxide, die multiresistente Bakterien und Keime zerstören. Die elektrischen Entladungen regen die Regeneration körpereigener Zellen an. Die große Wundauflage kann flexibel an die Körperformen angepasst werden. Schon zwei Minuten täglich beschleunigen den Heilungsprozess hartnäckiger und chronischer Wunden. Das Produkt kann inzwischen in Deutschland von Kassen übernommen werden. Nun soll der nächste Schritt ins Ausland führen. Coldplasmatech ist gerade dabei, den Sprung in die USA vorzubereiten – ebenso wie das Biotechnologieunternehmen TissUse.

„Human-on-a-Chip“

Mit seiner patentierten „Multi-Organ-Chip“-Plattform will das Berliner Start-up die Entwicklung von pharmazeutischen, chemischen und kosmetischen Produkten beschleunigen sowie die Zukunft der personalisierten Medizin mitgestalten. Denn die herkömmlichen Verfahren sind nur begrenzt aussagefähig: Menschlichen Zellkulturen im Reagenzglas fehlen die systemischen Wechselwirkungen im Körper. Tierversuche lassen nur bedingt Prognosen für den menschlichen Körper zu. Die Technologieplattform von TissUse besteht aus miniaturisierten Organmodellen, die durch einen gemeinsamen Kreislauf verbunden sind. So können Aktivitäten in ihrem physiologischen Kontext simuliert werden. Dieser neue Ansatz in der Arzneimittelforschung und -entwicklung besitzt das Potenzial, die Zahl der Tierversuche zu verringern und klinische Studien deutlich zu beschleunigen. TissUse vertreibt zum einen selbst entwickelte Geräte und Chips. Es erbringt mit Hilfe der eigenen Technologie aber auch Services für die Medikamentenentwicklung.

Den Aufwand richtig einschätzen

Die Wachstumschancen führen früher oder später jedes Unternehmen mit einem vielversprechenden medizintechnischen Produkt ins Ausland. „Viele Jungunternehmer unterschätzen allerdings den Aufwand und die Risiken, die ein solcher Schritt mit sich bringt“, gibt Prof. Notz zu bedenken. Der German Accelerator setze genau hier an. „Experten und ein exzellentes Netzwerk an den wichtigsten Hubs für Life Sciences helfen, Hürden richtig einzuschätzen und zu meistern“, so Notz.

Quelle Text: Ferdinand Ranzinger/Mirjam Bauer

Quelle Bild: apoQlar