Interview: MDR-Verschiebung auf 2021 – was ist zu beachten?

(Juni 2020) Nachdem der Geltungsbeginn der Medical Device Regulation (MDR) um ein Jahr verschoben wurde, gilt nun der neue Stichtag 26. Mai 2021. Für Hersteller von Medizinprodukten ergeben sich verschiedene Übergangsregelungen. Im Interview vermittelt Hans-Peter Bursig vom ZVEI-Fachverbandsgeschäftsführer Elektromedizinische Technik, seine Einschätzung dieser neuen Herausforderungen.

Die komplexe Situation verschafft den Herstellern einerseits mehr Zeit, um die neuen Anforderungen umzusetzen. Andererseits müssen sie sich darauf einstellen, dass die bisher geltende EU-Richtlinie über Medizinprodukte (MDD) und die nationalen Vorschriften zur Umsetzung parallel zu den Anforderungen der MDR gelten. So entsteht zwar Planungssicherheit für das Inverkehrbringen der Produkte – mit gültigen MDD-Zertifikaten sogar für ein weiteres Jahr. Mit zwei parallelen Systemen ergibt sich allerdings auch eine zusätzliche Komplexität und mehr Aufwand.

Es ist davon auszugehen, dass die Zahl der notifizierten Benannten Stellen in den kommenden Monaten weiter zunehmen wird. Hersteller, die bisher noch keine Benannte Stelle nach MDR haben, gewinnen also Zeit, rechtzeitig eine derartige Stelle zu finden.

Wie sinnvoll empfinden Sie die Entscheidung, die MDR zu verschieben?

Bursig: Die Verschiebung halte ich aus verschiedenen Gründen für sinnvoll und sachgerecht. Die fehlende Zahl der Benannten Stellen wurde schon oft thematisiert, seit die MDR in Kraft getreten ist. Deshalb hätte es aktuell während der Corona-Pandemie passieren können, notwendige Medizinprodukte nach dem 26. Mai 2020 nicht mehr zu erhalten – weil die erneute Konformitätsbewertung nach MDR nicht möglich gewesen wäre. Das ist jetzt verhindert worden. Zugleich räumt die Verschiebung Behörden, Benannten Stellen und Herstellern mehr Zeit ein, um die Umstellung auf die MDR erfolgreich abzuschließen.

Welche Vorteile – und sicher auch Nachteile – ergeben sich daraus für die Medizintechnik-Hersteller?

Bursig: Ein Vorteil ist sicherlich der verlängerte Zeitrahmen für die Hersteller, um ihre Vorbereitungen für die MDR abzuschließen und die Anforderungen sorgfältig umzusetzen. Ebenso bleibt den zuständigen Stellen mehr Zeit, um Benannte Stellen zu notifizieren und in der Folge den Engpass bei den Zertifizierungsmöglichkeiten aufzuheben. Einen Nachteil sehe ich darin, dass die Verlängerung von MDD-Zertifizierungen bzw. die Einführung neuer Produkte unter der MDR schwieriger sind. Denn die Benannten Stellen befinden sich ebenfalls im Prozess der Umstellung und können ihre Arbeiten nach der MDD oft nur in geringem Umfang oder gar nicht mehr ausführen. So befinden wir uns in einer rechtlich sehr komplexen Lage, weil jetzt zwei Systeme parallel zueinander anwendbar sind und diese Situation in jedem Mitgliedstaat der EU unterschiedlich sein kann.

Obwohl die MDR als EU-Verordnung direkt in Deutschland und allen Mitgliedsstaaten gilt, bestehen weitere Regelungen. Welche Konsequenzen zieht die Verschiebung auf rechtlicher Ebene nach sich?

Bursig: In den nächsten zwölf Monaten werden zwei Systeme parallel gelten. Die deshalb in Deutschland notwendigen Anpassungen bei den Gesetzen MPEUAnpG, MPDG und MPG sind hierzulande bereits abgeschlossen. Das ist sehr gut. Aber der Vollzug in der Praxis wird in Deutschland sicher noch Fragen aufwerfen, weil eben zwei Systeme nebeneinander angewendet werden. Ferner kommt hinzu, dass in einigen Mitgliedstaaten die Gesetze, die die MDD in nationales Recht umwandeln, bereits außer Kraft gesetzt sein könnten. Für den Absatz in diesen Ländern kann diese Situation noch weitere Fragen aufwerfen. Diese hoch komplexe Lage muss zügig entwirrt werden.

Was bedeutet das für Hersteller, die schon auf das System unter der MDR umgestellt haben? Welche Möglichkeiten ergeben sich daraus?

Bursig: Wer schon umgestellt hat, kann zwar Produkte nach MDR in Verkehr bringen, aber weil national noch der Rechtsrahmen der MDD gilt, kann das in der Praxis Fragen aufwerfen. Dies betrifft beispielsweise Vorkommnis-Meldungen oder Technische Dokumentationen: Der Hersteller geht das auf Basis der MDR an; eine Behörde oder Prüfstelle aber vielleicht auf Basis der MDD. Die grundsätzlich geregelte rechtliche Situation ist auf der Praxisebene noch sehr unsicher.

Ist Corona allgemein ein Treiber für die Branche oder eher Bremse?

Bursig: Corona ist zunächst einmal eine Belastung für alle Gesundheitssysteme. Die Pandemie führt zu einem mehr oder wenig stark eingeschränkten Betrieb in den Krankenhäusern. Ob hieraus in Zukunft Investitionen in neue Infrastrukturen entstehen, kann zum jetzigen Zeitpunkt niemand voraussehen. Corona stellt auf alle Fälle eine kurzfristige Belastung dar.

Was ändert sich künftig?

Bursig: Die MDR wird die medizintechnische Industrie in Europa auch nach dem Geltungsbeginn, der jetzt im Jahr 2021 liegt, weiter intensiv beschäftigen. Die Veränderungen gehen über neue Prozesse und Dokumente hinaus. Bei der Entwicklung neuer Produkte spielen klinische Daten und deren Bewertung eine verstärkte Rolle. Hier müssen die Hersteller und die Medizin neue Formen der klinisch-wissenschaftlichen Kooperation finden.

Quelle Text: Mirjam Bauer

Quelle Bild: ZVEI Boettcher