Klinische Bewertung: Die Regelungen der MDR

(Februar 2022) Die klinische Bewertung ist ein Verfahren, das klinische Daten daraufhin bewertet, ob ausreichende Evidenz für die Sicherheit und Leistung des zu betrachtenden Medizinprodukts im Vergleich zum Stand der Technik besteht. Es ähnelt dem Verfahren eines systematischen Reviews und führt zu einem Bericht. Das Produkt muss einerseits sicher sein (das wird durch die Anwendung des Risikomanagements sichergestellt), andererseits soll die klinische Bewertung den Teil des Sicherheitsaspekts beleuchten, der sich mit der Verarbeitung klinischer Daten beschäftigt.


Eine ausführliche Kommentierung des Artikels 61 MDR findet sich in der Publikation:

„Praxis Medizinprodukterecht digital“ Artikel 61 MDR: Klinische Bewertung

Im Rahmen des 4-wöchigen Gratistests haben Sie einen Zugriff auf den Artikel und die zugehörigen Arbeitshilfen:

  • Checkliste Dokumente für die klinische Dokumentation
  • Checkliste Überprüfung des CER
  • Übersicht Fundstellen klinische Dokumentation in MDR/MDCGs
  • Übersicht Entwicklung der Vorschriften zur klinischen Bewertung als Argumentationshilfe gegenüber der Benannten Stelle

Die Arbeitshilfen können Sie hier auch direkt kostenlos anfordern:

Arbeitshilfen MDR Klinische Bewertung


Einführung und Kritik

Die klinische Bewertung ist ein Verfahren, das klinische Daten daraufhin bewertet, ob ausreichende Evidenz für die Sicherheit und Leistung des zu betrachtenden Medizinprodukts im Vergleich zum Stand der Technik besteht. Es ähnelt dem Verfahren eines systematischen Reviews und führt zu einem Bericht.

Die klinische Bewertung ist also ein geplantes Vorgehen, das mit dem Aufstellen des Plans zur klinischen Bewertung beginnt, den Stand der Technik auf der Basis der Anforderungen nach Anhang I der Verordnung (EU) 2017/745 („MDR“) als Referenz darstellt, die vorhandenen klinischen Daten sammelt, diese sowohl einzeln als auch summativ bewertet und bei dem zum Schluss ein Bericht erstellt wird.

Die Durchführung der klinischen Bewertung stützt sich auf einige Absätze des Artikels 61 MDR sowie des Anhangs XIV MDR und die dort festgelegten Anforderungen. Nach wie vor ist MEDDEV 2.7/1 Rev. 4 generell als Durchführungshilfe anzusehen. Eine formale Betrachtung von Artikel 61 MDR zeigt, dass sich große Teile davon nicht mit der klinischen Bewertung beschäftigen, sondern mit der Frage, welche Kriterien dazu führen, dass für bestimmte Implantate und Klasse-III-Produkte keine klinische Prüfung durchzuführen ist, obwohl das generell für sie gefordert wird. Dadurch leidet die Lesbarkeit des Artikels 61 und erschwert seine Rezeption durch Hersteller und Benannte Stellen.

Produktspanne groß

Die große Spanne der Medizinprodukte, die sich nicht nur in den Risikoklassen I–III abbildet, sondern auch in der Breite der Produkte von Pflastern über stoffliche Medizinprodukte bis zu den Großgeräten und aktiven Implantaten, macht es schwierig, eine für alle passende Beschreibung des Prozesses der klinischen Bewertung zu erzeugen. Diese Erfahrung machen alle Hersteller, die genau einen solchen Prozess für ihre – meist ebenfalls breite – Produktpalette schreiben müssen.

Dennoch erscheinen sowohl im Text der MDR (trotz des erheblich gewachsenen Umfangs des Texts) als auch der Guidance-Dokumente der MDCG-Reihe noch viele Lücken im praktischen Tun. So sehen sich Hersteller und Benannte Stellen trotz der gewachsenen Zahl der MDCG-Guidance-Dokumente viel Spielraum für Interpretationen ausgesetzt, der meist nicht als Freiraum wahrgenommen wird, sondern zu Unsicherheit in der Auslegung führt.

Aufwendigere Berichte

Im Ergebnis führt das sowohl im Umfang als auch in der Tiefe zu aufwendigeren Berichten über die klinische Bewertung (CER). Die dann auch noch mit größerer Frequenz zu erstellenden Aktualisierungen dieser und darauf aufbauender Berichte (PCMF, PMS und PSUR) wirken sich ebenfalls steigernd auf die Arbeitslast der Hersteller und Benannten Stellen (insbesondere bei Klasse-III-Produkten) aus.

Die grundlegenden Probleme der fehlenden Abgrenzung der Aufgaben der klinischen Bewertung und des Risikomanagements in Bezug auf die Sicherheit sind – nach der Meinung des Autors – nicht gelöst. Die fehlende Beschreibung eines konsistenten und synchronisierten Zusammenspiels beider Verfahren trotz der Forderung danach in der MDR verunsichert Hersteller und Benannte Stellen und führt zu Übertreibungen und einem Klammern an den Wortlaut der Dokumente.

Verfahren unvollständig beschrieben

Als weitere generell formulierte Anforderung kommt dazu, dass die klinische Bewertung zwar den Produktlebenszyklus begleiten soll, das Verfahren aber unvollständig beschrieben bleibt. Es bleibt nach wie vor schwierig, diejenigen Aspekte des Produkts zu identifizieren, die einer Substantiierung durch klinische Daten bedürfen. Die MDR oder MDCG-Dokumente bieten dazu keine Kriterien an.

Die Hersteller bemühen sich trotz der dargestellten Probleme um eine möglichst gute Annäherung an die Anforderungen der MDR und versuchen weiterhin, den Markt – und letztlich die Patientinnen und Patienten – mit den erforderlichen Produkten zu versorgen, ohne dabei ihre Zertifizierung zu gefährden.

Bevor Sie beginnen

Bevor der Hersteller mit der Planung der klinischen Bewertung beginnt, sollte er prüfen, ob klinische Daten für den Nachweis der Übereinstimmung mit grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen erforderlich sind und um welche es sich handelt. Dabei soll er die Ergebnisse des Risikomanagements, besondere Merkmale des Zusammenspiels zwischen dem Produkt und dem menschlichen Körper, der bezweckten klinischen Leistung und die Angaben des Herstellers berücksichtigen.

Sollte er die Verwendung klinischer Daten für ungeeignet erachten, ist das in der technischen Dokumentation zu dokumentieren und zu begründen. Ob das in der Form eines Berichts über die klinische Bewertung erfolgen muss, bleibt offen. In der Leitlinie MDCG-2020-13 hingegen wird auf Seite 28 in einer Notiz darauf hingewiesen, dass auch in diesem Fall ein Bericht über die klinische Bewertung anzufertigen sei.

Praxistipp: Entwurf erstellen

Die MDR fordert zwar die Begleitung des Produktlebenszyklus durch die klinische Bewertung; offen bleibt dabei aber, wo sie Anfang und Ende des Produktlebenszyklus sieht. In der Praxis hat es sich als sinnvoll erwiesen, einen ersten Entwurf der klinischen Bewertung zu dem Zeitpunkt der Fixierung der Anforderungen an das Produkt zu erstellen. Auf diese Weise können Lücken in den vorhandenen klinischen Daten (aus der Literatur, für äquivalente Produkte und aus klinischen Prüfungen) identifiziert werden. An dieser Stelle des Entwicklungszyklus bleibt auch Zeit, um solche Lücken durch eigene klinische Prüfungen zu schließen und diese einzuplanen. Dieser Entwurf dient also primär der Abwendung oder Einschätzung von Projektrisiken. Dazu muss naturgemäß eine Zweckbestimmung formuliert sein. Eine Anpassung zum Schließen von Lücken zwischen Anspruch und Wirklichkeit der klinischen Daten ist in dieser Phase ebenfalls noch möglich, ohne die Markteinführung des Produkts zu gefährden.

Lebenszyklus

Lebenszyklus im Vergleich zur Lebensdauer

Lebenszyklus mit Phasen und Meilensteinen im Entwicklungsprozess und Vergleich zur Lebensdauer, © Jens-Uwe Hagenah, Bad Schwartau

Das Bild stellt die Konzepte Lebenszyklus (im oberen Teil) und Lebensdauer (im unteren Teil) einander gegenüber. Die Konzepte verwenden (jeweils unterschiedliche) Phasen und Meilensteine. Beide Begriffe Lebenszyklus und Lebensdauer werden in der MDR verwendet, aber nicht definiert. Weiterhin fehlt die Unterscheidung zwischen einem Produkt als Baureihe (die alle Exemplare eines Produkts umfasst, die mittels derselben Fertigungsunterlagen produziert werden; eine Baureihe wäre über eine gemeinsame Basis-UDI gekennzeichnet) und dem einzelnen gefertigten Exemplar. Letzteres hat eine Lebensdauer, die sich von der Fertigung bis zur Entsorgung erstreckt. Der Lebenszyklus hingegen beginnt ab der Idee für eine Baureihe und endet spätestens mit der Entsorgung des letzten in Betrieb befindlichen Exemplars dieser Baureihe.

Wie Anfang und Ende des Lebenszyklus bestimmt werden können, ergibt sich aus der MDR nicht. Der Lebenszyklus (der Baureihe) lässt sich vom Übergang vom Lastenheft zum Pflichtenheft (dem Beginn der Auslegung) bis zum Ende der Aufbewahrungspflicht festlegen. Dabei ist von einem lebenden Dokument auszugehen, das parallel zur fortschreitenden Auslegung der Baureihe fortgeschrieben und erst zum Beginn der Konformitätsbewertung abgeschlossen wird. Auf diesem Weg kann der Hersteller auch frühzeitig erkennen, ob es Lücken in den vorhandenen klinischen Daten gibt, die noch durch eine später durchzuführende klinische Prüfung geschlossen werden müssen.

Zusammenfassungen von klinischen Bewertungen

Häufig haben Hersteller eine Reihe ähnlicher Produkte im Portfolio. Diese Produkte stimmen in der Zweckbestimmung und der Auslegung stark überein, sind aber keine Varianten eines Produkts. Für die klinische Bewertung stellt sich die Frage, ob für jedes Produkt eine einzelne klinische Bewertung erstellt werden muss oder ob es die Möglichkeit der Zusammenfassung gibt. Der Bericht über die klinische Bewertung ist ein Teil der technischen Dokumentation der zusammengefassten oder der einzelnen Produkte.

Für Produkte der Klasse IIa und IIb (außer Implantaten) ist eine Zusammenfassung auf der Basis generischer Produktgruppen und Produktkategorien möglich. Die MDR schreibt die Auswahl repräsentativer Produkte zur Bewertung der technischen Dokumentation vor. Innerhalb dieser beiden Agglomerate können klinische Bewertungen Produkte gemeinsam behandeln, da die Produkte hinreichend ähnlich sind. Für Klasse-I-Produkte scheint es möglich, das analog durchzuführen. Für Implantate der Klasse IIb und solche Produkte, die Arzneimittel zuführen oder entnehmen, ist das nicht möglich, da die MDR dafür die Einzelprüfung pro Produkt vorschreibt.

Nomenklaturen nutzen

Das Dokument MDCG 2019-13 führt aus, wie die Nomenklaturen Medical Device, Active (MDA)/Medical Device, Non-active (MDN) und European Nomenclature on Medical Devices (EMDN) jeweils genutzt werden können, um Produkte in eine Produktkategorie oder in eine generische Produktgruppe einzuordnen. Die Produkte müssen in einer Produktkategorie demnach in dem vertikalen MDN/MDA-Code (nach dem Verwendungszeck) sowie dem horizontalen MDT/MDS-Code (Produkte mit besonderen Eigenschaften) übereinstimmen. Produkte in einer generischen Produktgruppe müssen in der vierten Ebene des EMDN-Codes (ein Buchstabe und 6 Ziffern) übereinstimmen.

Berührungspunkte mit dem Risikomanagement

Die Benannte Stelle überprüft die Schnittstelle des Herstellers zwischen klinischer Bewertung und Risikomanagement. Weder die MDR oder die MDCG-Dokumente noch die MEDDEV 2.7/1-Dokumente geben jedoch einen Hinweis darauf, welche Anforderungen diese Schnittstelle erfüllen muss oder wie sie vom Hersteller gestaltet werden kann. MEDDEV 2.7/1 Rev. 4 macht dazu in der Tabelle in Kapitel 7 z. B. die Aussage, dass zum Plan für die klinische Bewertung Daten und Referenzen aus den Risikomanagementdokumenten des Herstellers verwendet werden sollen, und nennt exemplarisch die Liste der Gefährdungen und der klinischen Risiken.

Die geübte Praxis der klinischen Bewertungen und des Risikomanagements orientiert sich an den jeweiligen Leitlinien und Standards: MEDDEV 2.7/1 und DIN EN ISO 14971. Diese schlagen den Herstellern aber kein Verfahren zur Verknüpfung vor. MEDDEV 2.7/1 erwähnt zwar das Risikomanagement vielfach und formuliert aus seiner Sicht auch Anforderungen an das Risikomanagement (so z. B., dass das Risikomanagement eine Begründung für einen Verzicht auf klinische Daten liefern soll), diese finden aber in der EN ISO 14971 keinen Anknüpfungspunkt. Umgekehrt ist die Definition des klinischen Nutzens, der im Rahmen einer Nutzen-Risiko-Abwägung herangezogen wird, nicht mit der klinischen Bewertung abgestimmt. Der Begriff der klinischen Bewertung kommt im Text der EN ISO 14971 gar nicht vor.

Berührungspunkte zwischen beiden Verfahren ergeben sich insbesondere aus drei Aspekten:

  1. Das Risikomanagement benötigt den Nutzen des Produkts, um eine Nutzen-Risiko-Abwägung vornehmen zu können. Dieser Nutzen muss derjenige sein, der im Rahmen der klinischen Bewertung auch nachgewiesen wurde.
  2. Die klinische Bewertung benötigt die Bestätigung, dass eine positive Bewertung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses vorliegt und die Nebenwirkungen ebenfalls für akzeptabel gehalten werden.
  3. Der mögliche Verzicht auf klinische Daten in der klinischen Bewertung soll durch Aussagen des Risikomanagements abgesichert sein.

Eine mögliche Vorgehensweise besteht darin, das Risikomanagement um die Bearbeitung der klinischen Daten zu erweitern und die Betrachtung der Sicherheitsaspekte aus der klinischen Bewertung herauszunehmen. Dies wurde bereits in einem Artikel von Hagenah und Kuhlmann beschrieben [1]. Der Vorteil der dort geschilderten Verfahrensweise liegt in der konsequenten Zuordnung der Zuständigkeiten: Das Risikomanagement umfasst alle Aspekte der Sicherheit inklusive der Betrachtung klinischer Risiken, während die klinische Bewertung die Leistungsfähigkeit und den Nutzen in den Blick nimmt. Beide Verfahren haben die Berührungspunkte im Nutzen und in der Bestätigung des positiven Nutzen-Risiko-Verhältnisses sowie in der Akzeptanz der Nebenwirkungen. Die jeweiligen Inhalte oder Textpassagen werden zwischen den Dokumenten referenziert und/oder ausgetauscht.

Die Ausführung der klinischen Bewertung basiert auf dem Plan zur klinischen Bewertung. Als grundsätzliche Frage ist zunächst zu klären, ob die Behandlung aller Sicherheitsaspekte durch das Risikomanagement erfolgen soll oder ob die klinischen Daten zum Nachweis der Sicherheit durch die klinische Bewertung behandelt werden sollen. In diesem Fall ist zu klären, wie die Schnittstelle zwischen beiden Verfahren ausgestaltet wird (soweit dies nicht durch die Prozesse des Herstellers schon festgelegt ist).

Nachweis der Leistungsfähigkeit

Die nächste Frage bezieht sich darauf, welche grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen im Plan zur klinischen Bewertung identifiziert wurden, die mittels klinischer Daten belegt werden sollen. Sollten keine solchen Anforderungen identifiziert worden sein, käme die Anwendung des Artikels 61 Abs. 10 MDR in Betracht und wäre dann aus dem Risikomanagement zu begründen.

Für den Nachweis der Leistungsfähigkeit sind nur klinische Daten des eigenen Produkts oder eines nachgewiesenermaßen gleichartigen Produkts zulässig. Etwaige Unterschiede zwischen den Produkten dürfen nicht zu klinisch bedeutsamen Unterschieden zwischen dem untersuchten Produkt und dem gleichartigen führen. Das ist vom Hersteller angemessen wissenschaftlich zu begründen.

Die vorgelegten klinischen Daten müssen ausreichend sein, um die Erfüllung der Grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen zu belegen. Die MDR selbst gibt keinen Hinweis darauf, anhand welcher Kriterien sich beurteilen lässt, ob die Daten ausreichend sind. Dieser Punkt wird auch in MDCG 2020-6 im Abschnitt 5 diskutiert. Eine klare Auslegung des Begriffs wird dort aber auch nicht erreicht. Die Autoren schreiben, dass letztlich dann ausreichende klinische Daten vorliegen, wenn das Resultat aus einer qualifizierten Bewertung stammt und zum Ergebnis kam, dass das Produkt sicher und seine Zweckbestimmung erfüllt ist. Der Rückgriff auf MEDDEV 2.7/1 Rev. 4 im Anhang A2 Buchstabe 4 führt zu den Kriterien, dass die Daten mit dem Stand der Technik übereinstimmen sollen, wissenschaftlich fundiert sein und alle Aspekte der Zweckbestimmung und alle Größen, Modelle und Einstellungen des Produkts abdecken sollen.

Es bleibt also im Einzelfall dem Urteil des Herstellers, der Benannten Stelle und etwaiger Expertengremien in der Bewertung der klinischen Bewertung überlassen, zu übereinstimmenden oder abweichenden Ergebnissen zu kommen.

Quellen für klinische Daten

Wurde festgestellt, dass eine klinische Bewertung auf der Basis klinischer Daten erforderlich ist, wäre als Nächstes zu klären, ob es möglich erscheint, ausschließlich klinische Daten aus der Literatur zum untersuchten Produkt oder einem äquivalenten Produkt zu verwenden. Die MDR definiert im Artikel 2 Nr. 48, dass die klinischen Daten aus den folgenden Quellen stammen (können):

  • klinische Prüfungen des Produkts
  • oder eines äquivalenten Produkts oder Berichte über solche Studien in der wissenschaftlichen Fachliteratur,
  • Berichte über nach dem Peer-Review-Verfahren überprüfte klinische Erfahrungen aus wissenschaftlicher Fachliteratur sowie
  • relevante klinische Daten aus der Nachbeobachtung nach dem Inverkehrbringen.

Das entspricht (bis auf das Fehlen der Daten aus der Nachbeobachtung) der Definition, wie sie sich in der MDD fand. Eine explizite Festlegung für die Kombination aus Literaturweg und eigenen klinischen Daten, wie sich diese dort fand, beschreibt die MDR wiederum nicht, kommt aber zu einem ähnlichen Ergebnis, indem sie die Schließung von Lücken durch eigene klinische Prüfungen fordert. Dies erscheint nur dann sinnvoll, wenn die Ergebnisse mit den schon vorhandenen Daten kombiniert werden können.

Literaturweg

Der Literaturweg ist vom Hersteller auf jeden Fall zu beschreiten (zumindest für die Beschreibung des Stands der Technik), es sei denn, er kann für die Nachweise von Leistungsfähigkeit, Nutzen und Sicherheit vollständig auf klinische Daten verzichten. Er besteht aus den Schritten Identifikation, Bewertung jeder einzelnen Fundstelle, Analyse aller Daten und Erstellen des Berichts sowie der Planung etwaiger PMCF-Maßnahmen.

Am Anfang des Literaturwegs steht die Festlegung der Suchstrategien für die klinischen, wissenschaftlichen Veröffentlichungen. Diese Strategien sollen vier Felder abdecken:

  1. den Stand der Technik in Bezug auf Leistungsfähigkeit und Nutzen der bekannten Produkte und medizinischen Verfahren
  2. den Stand der Technik in Bezug auf die akzeptierten Risiken und Nebenwirkungen der bekannten Produkte sowie das aus diesen beiden Punkten resultierende Nutzen-Risiko-Verhältnis
  3. vorhandene klinische Daten zu der Leistungsfähigkeit und dem Nutzen des untersuchten Produkts oder eines ihm äquivalenten Produkts
  4. vorhandene klinische Daten zu den bekannten Risiken und Nebenwirkungen des zu untersuchenden oder eines ihm ähnlichen Produkts sowie das aus diesen beiden Punkten resultierende Nutzen-Risiko-Verhältnis

Aus diesem Ansatz entstehen Suchstrategien, die jeweils noch in Unteraspekte gegliedert sein können. Da es erfahrungsgemäß eine Überschneidung in den Ergebnissen gibt, verfolgen viele Literatursuchende den Ansatz, zunächst eher unspezifisch zu suchen und die Ergebnisse dann den oben genannten Strategien zuzuordnen. Das bringt dann eine Arbeitsersparnis, wenn die Analyse viele Fundstellen umfasst, die mehrfach in den Ergebnislisten auftreten und mittels manueller Verfahren identifiziert werden müssten, um Doppelarbeit bei der Analyse und Bewertung einzugrenzen.

Literaturbewertung

Die identifizierten Literaturstellen werden im nächsten Schritt in ihrem Beitrag zu dem jeweils mit der Strategie verfolgten Ziel bewertet. Dabei sind der Informationsinhalt des Dokuments, die methodische Qualität, die Relevanz für klinische Bewertung und das Gewicht dieses Dokuments im gesamten Datensatz zu bewerten. Diese Aufgabe ist allerdings schwierig zu erfüllen, da der gesamte Datensatz aller Dokumente bei der Betrachtung einzelner Dokumente noch nicht zur Verfügung steht. Auch lässt die MEDDEV 2.7/1 Rev. 4 offen, wie ein solches System der Gewichtung aussehen könnte, und auch die referenzierten Verfahren zur systematischen Literatursuche bieten es nicht an. Der Verweis auf Anhang D des Dokuments zur klinischen Bewertung stellt eine Reihe von Kriterien vor, die aber untereinander keine Rangfolge kennen. Diese wäre aber erforderlich, um alle einzelnen Kriterien zu einem Gesamtgewicht zu verrechnen. Anhand dieses Gesamtgewichts ließe sich dann auch eine Reihenfolge der einzelnen Beiträge erstellen, wie sie von MEDDEV 2.7/1 Rev. 4 in Kapitel 9.3.3 gefordert wird. Die Ausführungen dort nehmen jedoch keinen Bezug zu allen Kriterien im Anhang D des GHTF-Dokuments, sondern stellen lediglich fest, dass eine gut geplante und überwachte randomisierte Studie den höchsten Stellenwert erhalten sollte.

Klinische Bewertung nach Produktklasse

Die Anforderungen in der MDR beziehen sich entweder auf Produkte aller Risikoklassen oder sind nur für Produkte bestimmter Risikoklassen anwendbar. Die MDR benennt alle Anforderungen an Produkte der höchsten Risikoklasse. Sie macht aber für die klinische Bewertung nur wenige Angaben darüber, welche Anforderungen für Produkte niedrigerer Klassen nicht gelten. Hersteller von Produkten niedriger Risikoklassen stehen also vor der Herausforderung, die für ihre Produkte nicht passenden Anforderungen zu identifizieren und deren Nichtanwendbarkeit zu begründen.

Dabei lassen sich z. B. die Aussagen über „well-established technology“ auch auf Produkte mit niedrigeren Risikoklassen übertragen. Dieser Ansatz lässt sich auch über die begrenzte Anwendung hinaus auf Produkte, die unter der MDD das CE-Zeichen trugen, anwenden. Da die Festlegungen dort universellerer Natur sind, lassen sie sich auch bei allen Produkten unter der MDR einsetzen.

Der Hersteller wird einen Prozess für die Durchführung der klinischen Bewertung als Teil seines Qualitätsmanagementsystems etabliert haben, so wie es im Rahmen eines Audits überprüft werden soll. Dieser Prozess kann eine Checkliste der Informationen und Dokumente enthalten, die zur Durchführung einer klinischen Bewertung erforderlich sind. Hersteller können sich beim Review ihrer klinischen Bewertung an der Checkliste aus dem Anhang I von MDCG 2020-13 orientieren, um die Vollständigkeit und die Richtigkeit zu überprüfen.

CEAR und CECP

Die klinische Bewertung bestimmter Produkte höherer Risikoklassen erfordert bei jeder Konformitätsbewertung die Mitwirkung der Benannten Stelle. Dabei entsteht ein Bericht über die Begutachtung der klinischen Bewertung (CEAR = Clinical Evaluation Assessment Report). Für Produkte der höchsten Risikoklassen sieht die MDR ein Konsultationsverfahren vor, in dem der Bericht CEAR unter bestimmten Bedingungen weiter beurteilt wird. Das Verfahren wird als CECP (Clinical Evaluation Consultation Procedure) bezeichnet. Das führt wiederum zu einem Bericht. Dieser Bericht wird durch die Europäische Kommission veröffentlicht.

Ein nur vorübergehend öffentlich verfügbarer Bericht gibt Benannten Stellen und auch Herstellern eine Hilfestellung, worauf sie in der klinischen Bewertung bzw. in der Begutachtung zukünftig besonders achten sollten:

  1. Vollständige Abdeckung aller Indikationen mit klinischen Daten (oder jeweilige Begründung des Verzichts auf klinische Daten)
  2. Begründung, warum bestimmte klinische Daten zur Langzeitbeobachtung erst in der Beobachtung nach Inverkehrbringen erhoben werden (eventuell mit einer Begründung aus dem Risikomanagement) und nicht schon in der klinischen Prüfung vor Inverkehrbringen
  3. Begründung für die Extrapolation auf nicht untersuchte Parameterkonstellationen
  4. genaue Betrachtung der Äquivalenz von Produkten
  5. Verknüpfung mit dem Risikomanagement

Um diesen Aspekten gerecht zu werden, kann eine Hilfestellung darin liegen, dass der Hersteller die Produktentwicklung rekapituliert und jeweils betrachtet, bei welchen Designentscheidungen klinisches und biologisches Wissen eine Rolle spielte und aus welchen Quellen es stammte.

Aktualisierung

Für die Aktualisierung der klinischen Bewertung empfiehlt es sich, sich an der Lebensdauer des zuletzt gefertigten Produkts zu orientieren, die Aufbewahrungsfristen der technischen Dokumentation zu berücksichtigen und die Aktualisierung spätestens mit dem Ende der letzten Serviceperiode einzustellen. Für Produkte, die keinem Service unterliegen und weder Verbrauchsmaterialien noch (Original-)Ersatzteile benötigen (das Ende der Versorgung ist dem Hersteller ja bekannt), kann der Hersteller dann nur durch eigene Datenerhebungen erkennen, wann sein Produkt nicht mehr eingesetzt wird.

Die klinische Bewertung ist mit Daten aus der Phase nach der Markteinführung aktuell zu halten. Es empfiehlt sich, die Aktualisierung der klinischen Bewertung insbesondere mit der Aktualisierung des Berichts über das Risikomanagement zu synchronisieren und ebenfalls die Fristen zur Abgabe der Berichte.

Literatur

[1] Hagenah, J.-U. und Kuhlmann, K.: Klinische Bewertung und Risikomanagement, mt | medizintechnik, Bd. 5, pp. 23–27, TÜV Media 2019

Dokumentation: J.-U. Hagenah. Klinische Bewertung: Die Regelungen der MDR. mt | medizintechnik 142 (2022), Nr. 1, S. 26, 2 Bilder

Schlagwörter: MDR, klinische Bewertung, Risikomanagement

Autor

Dr. rer. nat. Jens-Uwe Hagenah

Langjährige Erfahrung in der Entwicklung von Medizinprodukten sowie im Bereich Clinical Affairs, insbesondere im Management von klinischen Bewertungen. Zahlreiche Vorträge und Veröffentlichungen zum Thema klinische Bewertungen.

E-Mail: jens-uwe.hagenah@t-online.de