Psychologie trifft Medizintechnik: Das Gehirn beim Gehen beobachten

(September 2020) Im Kooperationsprojekt „Brain in Motion“ schauen Forschende in Ulm dem Gehirn beim Gehen zu. Tatsächlich gehört das Gehen zu den am besten gelernten motorischen Fähigkeiten des Menschen. Doch infolge einer Erkrankung oder eines Unfalls können die perfekt aufeinander abgestimmten Bewegungsabläufe aus dem Takt geraten.

Ein neues Projekt soll zu einer verbesserten Gangrehabilitation beitragen: In einer aktuellen Pilotstudie wurden neuronale Marker identifiziert, die sich einzelnen Gangphasen zuordnen lassen. Mithilfe Künstlicher Intelligenz lässt sich diese Zuordnung sogar automatisieren.

Die neurokognitiven, -motorischen und biomechanischen Grundlagen des Gehens wollen die Psychologie-Professorin Cornelia Herbert von der Universität Ulm und der Professor für Softwaretechnik und Sensorik, Michael Munz (Technische Hochschule Ulm/THU), im Detail verstehen. In ihrem Kooperationsprojekt „Brain in Motion“ kombinieren sie hierfür laborexperimentell-psychologische, neurowissenschaftliche sowie technische Methoden. Ihre Forschungsergebnisse sollen zu einer verbesserten Diagnostik und Gangrehabilitation von zum Beispiel Schlaganfall-Patienten, Unfallopfern oder Personen mit neurologischen Erkrankungen beitragen.

Für eine kürzlich im Fachjournal „Applied Science“ erschienene Pilotstudie haben die Forschenden anhand von Laufbandanalysen und Messungen der Gehirnaktivität
(Elektroenzephalografie/EEG) untersucht, wie einzelne, für das Gehen relevante neurokognitive und neuromotorische Funktionen innerhalb von Millisekunden erhoben und automatisiert ausgewertet werden können. Konkret wollten Cornelia Herbert und Michael Munz herausfinden, ob ereigniskorrelierte Potentiale (EKPs) anhand der EEG-Aufzeichnungen einzelnen Phasen des Gangzyklus zugeordnet werden können. Dieser Forschungsfrage sind sie im „Brain-Imaging-Lab“ nachgegangen, das Professorin Cornelia Herbert an der Universität Ulm aufgebaut hat.

In der Pilotstudie wurden gesunde Testpersonen aufgefordert, zunächst in ihrer Wohlfühlgeschwindigkeit auf einem Laufband zu gehen. Zeitweise erhielten die Studentinnen Anweisungen, größere oder kleinere Schritte zu machen oder etwa die Geschwindigkeit des Laufens zu erhöhen. Die ganze Zeit über ist ihr Gangbild von einer im Laufband integrierten Druckmessplatte sowie von Inertialsensoren (IMUs) erfasst worden. Gleichzeitig wurde die Gehirnaktivität der Probandinnen mittels EEG gemessen. „Mithilfe neuer psychologischer und technischer Schnittstellen ist es uns gelungen, EKPs in den EEG-Aufzeichnungen zu identifizieren und diese den verschiedenen Phasen des Gangzyklus zuzuordnen“, erklärt Professorin Cornelia Herbert, Leiterin der Abteilung Angewandte Emotions- und Motivationspsychologie der Universität Ulm. Entscheidend für die Zuordnung seien die beobachtbaren Gangphasen gewesen – wie zum Beispiel der erste Bodenkontakt des linken und rechten Fußes.

Die ereigniskorrelierten Potenziale, die während der initialen Bodenkontakte auftraten, ließen sich tatsächlich bei allen Testpersonen nachweisen: Sie können also als neuronale Marker des Gehens angesehen werden und Auskunft über die von der Hirnrinde ausgehende („kortikale“) Bewegungssteuerung geben. Zudem ergaben sich bei den Untersuchungen Hinweise, welche Gehirnregionen im Verlauf des Gangzyklus aktiv sind. „Unsere Ergebnisse und unser Forschungsprojekt tragen dazu bei, in Zukunft die neuropsychologische Diagnostik von Patientinnen und Patienten mit motorischen Störungen zu verbessern“, so Professorin Cornelia Herbert.

In einem zweiten Schritt haben die Forschenden einen an der THU bereits für Ganganalysen verwendeten Lernalgorithmus so trainiert, dass dieser die neuronalen Marker im EEG erkennt und automatisch den Gangphasen zuordnet. „In Zukunft könnten Ganganalyse-Verfahren durch maschinelle Lernalgorithmen in der Anwendung verbessert und vollständig automatisiert werden“, sagt Professor Michael Munz.

Aufbauend auf den ermutigenden Ergebnissen der Pilotstudie wollen Herbert und Munz die Gangrehabilitation und Sturzprävention verbessern – gerne in Kooperation mit Kliniken und Medizintechnik-Anbietern der Region. Derzeit werden die Erkenntnisse in weiteren Stichproben und mit Teilnehmenden unterschiedlicher Altersgruppen untersucht und validiert.

Quelle Text: Universität Ulm

Quelle Bild: Herbert / Universität Ulm