Ingo Nöhr und Kumpel Jupp: Betreibervorschriften (Folge 1)

(August 2023) Mehrere Jahrzehnte lang arbeiteten die beiden Pensionäre Ingo und Jupp in einem großen Krankenhaus. Der Medizin-Ingenieur Ingo sieht optimistisch, sein Freund Jupp, ehemaliger Medizintechniker, eher pessimistisch auf das Weltgeschehen im Gesundheitswesen. Im Ruhestand diskutieren sie den Lauf der Weltgeschichte: Schreibtisch-Planer-Mentalität versus Praxis, zum Schmunzeln.

Folge 1: Hast Du heute schon Deine Betreibervorschriften erfüllt?

Als ich vor einigen Tagen wieder einmal meinen Freund Jupp besuchte, fand ich ihn in der Garage bei seinem Auto. „Hast Du Probleme mit Deinem Wagen, Jupp?“ – „Ja, sicher. Die Dokumentation ist absolut unzureichend“, grummelte er vor sich hin.

Das konnte ich gut nachvollziehen. „Mach Dir nichts daraus. Ich verstehe meine Gebrauchsanweisung auch immer erst dann, wenn ich weiß, wie das Gerät funktioniert.“ –
„Quatsch, ich finde nirgendwo die sicherheitstechnischen Kontrollen definiert.“

Hatte ich gerade sicherheitstechnische Kontrollen verstanden? „Wie bitte, was suchst Du? Jupp! Die STK gibt doch nur bei Medizinprodukten.“ –
„Das ist es ja gerade. Ich brauche sie dringend für mein Medizinproduktebuch“.

Tatsächlich, auf der Werkstattbank lag ein dickes Buch mit der Aufschrift „Medizinproduktebuch – VW Golf „.

Jupp merkt immer sofort, wenn ich verstört dreinschaue und prompt klärte er mich auf. „Ja, mein lieber Freund, ich habe festgestellt, dass mein Auto gemäß MPG als Medizinprodukt einzugruppieren ist. Und jetzt will ich als Betreiber und Anwender ordnungsgemäß ein Medizinproduktebuch anlegen. Aber ich finde die Fehlergrenzen der Messfunktionen nicht im Handbuch, dabei muss der Hersteller sie ganz klar angeben.“

„Warum, … wieso, … was???“ konnte ich nur hilflos stammeln. Ich verstand gar nichts mehr.
Die Garage sah wirklich nicht wie ein Krankenhaus oder eine Arztpraxis aus.

„Ja, liest Du denn gar keine Gesetze? Das ist oberste Bürgerpflicht, mein Lieber. Das Medizinpro­dukte­gesetz, das Emmm Peee Geee“. Dabei betonte er jeden einzelnen Buchstaben mit einem gewal­tigen Augenrollen: „… ist ein Schutzgesetz nach § 823 Bürgerliches Gesetzbuch, Beee Geee Beee, capito amigo?“.

Schon wieder diese furchterregende Gesichtsmimik. „Und das heißt: Unkenntnis schützt vor Strafe nicht! Du solltest da ganz schnell reingucken, gibt sonst ein Jahr, in schweren Fällen bis zu 5 Jahre Haft.“ Mit einem scheelen Seitenblick ergänzte er versöhnlich: „Na, Dir geben sie wohl mildernde Umstände, vielleicht nur 25.000 Euro Geldbuße.“

Bevor ich zu Ende überlegen konnte, ob ich nun beleidigt sein müsste, ging die Vorlesung weiter: „Mein Auto ist nämlich ein Apparat, der vom Hersteller zur Anwendung für Menschen mittels seiner Funktion

  1. zum Zwecke der Verhütung von Krankheiten (ich bekomme bei schlechtem Wetter im Auto keine Erkältung!)
  2. zur Linderung von Verletzungen (mein linker Meniskus ist seit dem letzten Fußballspiel ramponiert!)
  3. zur Kompensierung von Behinderungen (Du kennst doch meine Plattfüße!)
  4. der Veränderung eines physiologischen Vorgangs (wie ständiges Zufusslaufen) zu dienen bestimmt ist.“

Vier erhobene Finger bedrohten nur wenige Zentimeter entfernt meine Nase.

„Toll Jupp! Gleich vier Gründe für die Zuordnung, welches Medizinprodukt hat das schon?“ erwiderte ich verschüchtert. So hatte ich die Situation noch gar nicht betrachtet. „Und in welche Risikoklasse fällt Dein Auto?“ wagte ich einen Ausfall.

Leider war er bestens auf meine Herausforderung vorbereitet.

„Na, ganz klar in die Risikoklasse II b. Aktives therapeutisches Medizinprodukt mit Abgabe von Energie bei Vorliegen einer potenziellen Gefährdung. Regel 9 der Klassifizierungskriterien, EG-Richtlinie 93/42/EEC Anhang IX Pkt. 3.1! Bauartprüfung und Serienprüfung liegen vor. Nur das CE-Zeichen habe ich bisher noch nicht gefunden. Noch Fragen?“

„Und die Eingruppierung nach der Betreiberverordnung?“ hauchte ich, all meine Fachkenntnisse zusammenkratzend, um wenigstens ansatzweise meine Beschlagenheit aufzuzeigen.

„Anlage 1, nichtimplantierbares aktives Medizinprodukt zur Anwendung elektrischer Energie zur unmittelbaren Beeinflussung der Funktion von Nerven und Muskeln“ kam es wie aus der Pistole geschossen. „Manchmal leider auch zur Erzeugung und Anwendung jeglicher Energie zur unmittel­baren Gewebezerstörung. Aber das sollte nicht die ursprüngliche Zweckbestimmung sein. Es sei denn, man fährt so ein japanisches Gefährt.“

Die letzten beiden Worte wurden eigentümlich betont. Das war nun eindeutig auf mich gemünzt. Mein schöner Toyota war ihm schon immer ein Dorn im Auge gewesen. Zufrieden zurückgelehnt genoss er die Wirkung seiner Erklärung.

Tief beeindruckt und etwas beleidigt starrte ich ihn an. Ich beschloss, es ihm mit gleicher Münze heimzuzahlen: „Hast Du denn schon eine Anwendereinweisung bekommen, Jupp?“ wagte ich boshaft einzuwenden.

„Na klar, ich hab doch wohl einen Führerschein. Außerdem habe ich mich im Selbststudium anhand der Gebrauchsanweisung zur Anwendung qualifiziert. Durfte ich, weil baugleiches Modell vorliegt. Ich fahr immer schon VW Golf. Was man bei Dir ja wohl nicht behaupten kann. Hast Du denn schon Japanisch für die Gebrauchsanweisung gelernt?“

Das ging wieder ganz klar gegen meine Autofirma. Ich beschloss, dem Streit auszuweichen und ver­suchte das Thema zu wechseln. „Mein Gott, Jupp. 44 Millionen Autos gibt es in Deutschland, hast Du schon mal an die Meldepflicht von Beinahe-Vorkommnissen gedacht?“

„Klar, § 3 MPBetreibV und MP-Sicherheitsplanverordnung: Jede Funktionsstörung, Änderung der Merkmale oder Leistungen, Unsachgemäßheit der Kennzeichnung oder Gebrauchsanweisung sind an das BfArM zu melden. Da gibt es wahrlich viel zu tun. Ich werde die Beinahevorkommnisse wohl mit Strichlisten erfassen und paketeweise täglich per Internet übermitteln.“

Man sah ihm an, dass er an dieser Aufgabe schwer trug. Und noch etwas bedrückte ihn besonders: „Mein Tankwart, bei dem ich immer Ölwechsel machen lasse, konnte mir noch nicht die erforderliche Sachkenntnis für die Instandhaltung von Medizinprodukten nachweisen. Ich werde wohl schweren Herzens zu einer teuren Fachwerkstatt wechseln müssen.“

Er hatte mein vollstes Mitgefühl. Ich dachte an die vielen Samstage, die er jedes Mal liebevoll mit dem Autowaschen zubrachte. Ich brachte es einfach noch nicht übers Herz, ihm mitzuteilen, dass die Reinigung von autoähnlichen Medizinprodukten nur mit geeigneten validierten Verfahren durchzu­führen ist. Und dass die Verwendung seines selbstgebastelten Dachgepäckträgers noch eines Konformitätsbewertungsverfahrens bedarf.

Und dass die zeitweilige Überlassung seines Autos an seinen Schwager, der einen Pizza-Expressdienst besitzt, wegen einer möglichen Änderung der Zweckbestimmung (als Lastauto) ein erneutes Inverkehrbringen sein könnte. Und dass die erforderliche Konformitätsbewertung eventuell auch § 6 MPV umfassen müsste, da es sich bei seinen lederbezogenen Komfortsitzen um „ein von tierischem Gewebe hergestelltes Medizinprodukt“ handeln könnte.

Ich fahre jetzt lieber Fahrrad: ein nicht aktives, nicht invasives therapeutisches Medizinprodukt der Risikoklasse I. Und so durfte ich das CE-Kennzeichen nach Anhang VII bzw. Modul A der EG-Richtlinie durch eine einfache Herstellererklärung selbst aufbringen. Und ein Medizinproduktebuch brauche ich auch nicht zu führen. Das Leben kann so einfach sein.

Quelle Text: Manfred Kindler im Medizintechnikportal-Archiv

Quelle Bild: www.medi-learn.de