Kolumne: Tagebuch der Vera Neumann aus dem Jahr 2033, Teil 4

(Juli 2019) Vera Neumann, geboren am 21. November 1966, verwitwet, jetzt 66 Jahre alt, lebt allein in einer Kleinstadt. Sie ist Krebspatientin und arbeitet noch als Pflegemanagerin in einer Senioren-WG. Und: Sie schreibt seit vielen Jahren ein Tagebuch. Einblicke in ihre Gedankenwelt erhalten Sie exklusiv in mt-medizintechnik.

Auf der Pflegestation (Folge 4)

7. März 2033  Montag

Heute ist wieder Arbeitstag. Es geht vormittags schon mit einem Feueralarm los. Der nervige Urenkel von Elfriede hat versucht, ihren Kuschelroboter Lucy in Brand zu setzen, als seine Mutter gerade mal auf Toilette war. Sie ist natürlich in Panik geraten, dabei aus dem Bett gefallen und hat ein höllisches Geschrei ausgestoßen. Aber unser Robbiman war schnell zur Stelle, hat sie aufgehoben und sachte wieder ins Bett gelegt.

Lucy hat nun ein versengtes Fell, aber sonst ist nichts weiter passiert, denn die Materialien sind alle schwer entflammbar. Elfriede besteht aber auf Brandsalbe und einen ordentlichen Verband. Wir haben Lucy auf permanentes Schnurren programmiert, zwischendurch erzählt er beruhigende Geschichten und hört sich geduldig ihr Geschimpfe über den missratenen Bengel an.

8. März 2033 – Dienstag

Auf Zimmer 12 liegt Herlinde, mit 87 Jahren noch körperlich einigermaßen aktiv, was unserem Pfleger Bruno einiges abverlangt. Sie feiert seit einer Woche als Kölner Faschingsprinzessin eine heftige Karne­vals­fete, schreit ununterbrochen „Kölle Alaaf“ und möchte endlich ihren Prinzen knutschen. Bruno kann sich ihrer sexuellen Attacken kaum noch erwehren und hofft auf die baldige Erschöpfungsphase. Er hat von der Medien-KI schon ein Filmpaket an historischen Büttenreden einer Prunksitzung zusammen­stellen lassen, welches er ihr dann über ihre VR-Brille verabreichen möchte.

Die Media-KI, sie heißt übrigens Cornelia, ist eine wertvolle Hilfe für uns. Über die Kuschelroboter erfasst sie die Gemütszustände unserer bettlägerigen Patienten, ermittelt die kulturellen Vorlieben und liefert dann über die VR-Brillen oder Videowände die passende Musik und Kinofilme. Anschließend steuert sie die Kuscheltiere bei den oft endlosen Diskussionen über die Inhalte des Gesehenen oder Gehörten. Ich staune immer, was Cornelia alles zu den Videos erzählen kann.

Wie es Klaus-Peter vom Zimmer 23 geschafft hat, Cornelia auf die Belieferung mit Pornofilmen zu programmieren, wissen wir bis heute noch nicht. Bruno hat ihm vor kurzem gegen ein saftiges Trinkgeld einen japanischen Sexroboter beschafft. Jetzt herrscht Ruhe, weil die Sexgeräusche direkt in sein Implant-Hörgerät übertragen werden. Trotzdem weigert sich Kollegin Erna beharrlich, dieses Zimmer jemals wieder zu betreten.

9. März 2033 – Mittwoch

Heute Abend erschien auf meiner Videowand plötzlich eine Meldung aus China. Erst dachte ich, mein Enkel Jochen will mich sprechen, aber dann war es sein KI-Doktor. Der hatte im Schweiß seines T-Shirts verdächtige Laborwerte gemessen und Jochen zu einer Medizintelevisite aufgefordert. Jochen wollte wohl nicht. Ich soll jetzt Druck auf ihn ausüben, damit er den Alarm ernstnimmt. Sonst erhält er Malus­punkte bei seiner Versicherung.

Also, was denken die sich? Soll ich mich jetzt um meine ganze Verwandtschaft kümmern? Jochen war jedenfalls geschockt, als ich ihn kurz danach angerufen habe. Aber er hat Besserung gelobt. Auf die Oma hört er also noch.

10. März – Donnerstag

Jeden Abend hatte ich nun längere Gespräche mit KI-Doc Ferdinand, der mit mir die Therapieergebnisse durchgeht. Die Umprogrammierung meiner Lymphozyten hat geklappt und die bekämpfen jetzt gezielt die Tumorzellen in meinem Körper. Deshalb braucht er mir keine Nanokügelchen aus Gold zu spritzen. Und mein Coach Gottfried gibt sich alle Mühe mit Reiki, Atemübungen und Tschaka-Tschaka Appellen meine Resilienz zu verstärken. Aber eigentlich nervt er mich immer mehr. Er will mich über meine Stimmungen ausforschen. Aber er ist doch kein Mensch!

11. März 2033 – Freitag

Die Erlebnisse in der ersten Woche auf der Pflegestation bringen mich in eine nachdenkliche Stimmung. Die Begegnung mit Dr. Rath hat mir wieder mal gezeigt, wie wichtig echte menschliche Zuwendung für die Genesung ist. Die Gespräche mit den KI-Docs Ferdinand und Gottfried sind zwar nett und ich lerne viel dabei, weil sie mir alles genau erklären. Und ja, die vielen Roboter auf der Pflegestation entlasten uns massiv von der Routinearbeit, aber nutzen wir die dadurch freigewordene Zeit wirklich mal für ein Gespräch zwischen Menschen?

Ich habe mir vorgenommen, mehr mit meinen Patienten zu sprechen. Schließlich ist jeder Mensch ein eigener Kosmos für sich.

Quelle Text: Manfred Kindler, mt-medizintechnik Heft 2/2019

Quelle Bild: Mirjam Bauer