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StartKolumneKolumne: Tagebuch der Vera Neumann im Jahr 2033, Teil 18

Kolumne: Tagebuch der Vera Neumann im Jahr 2033, Teil 18

(Dezember 2021) Die krebskranke Pflegemanagerin Vera Neumann ist nach der Begegnung mit ihrem digitalen Zwilling immer noch verunsichert. Soll sie sich mit ihrer Persönlichkeit der KI-Forschung zur Verfügung stellen und eine Änderung der mechanistischen Sichtweise des Menschseins erreichen?  Ihr Tagebuch lesen Sie exklusiv in mt-medizintechnik.

  1. Mai 2033 – Montag

Das Treffen am Wochenende mit Thorsten hat mir gutgetan. Zusammen mit meinen neuen Freunden Wilhelm und Frank verkörpert er meine vertraute Welt – das analoge Leben. Aber ich bin mit mir immer noch nicht im Reinen, ob ich der Bitte von Doc Ferdinand folgen soll. Er glaubt, dass die intensive Beschäftigung seiner technikbegeisterten IT-Nerds mit einem echten Menschen wie mir für die Fortentwicklung der digitalen Medizin einen großen Fortschritt bringen würde. Sie wären gezwungen, die nicht quantifizierbaren Einflüsse der Natur auf Heilungsprozesse endlich zu berücksichtigen. Als wichtigen Nebeneffekt würden sie die Grenzen der Künstlichen Intelligenz akzeptieren müssen.

Irgendwie schmeichelt es mir ja schon, dass ich zur Hauptdarstellerin in dieser Wunderwelt der medizinischen Forschung avancieren soll. Ich glaube, ich werde mich da doch noch einmal nützlich machen und der Teilnahme am Projekt zustimmen. Vielleicht kann ich da ja einen kleinen Spurwechsel bewirken – hin zum Wesentlichen.

  1. Mai 2033 – Dienstag

Stopp! Alles zurück auf Anfang! Mein lieber Jochen aus Peking hat gerade angerufen. Er klang natürlich begeistert, als ich ihm von meinem Plan erzählt habe, und schwärmte von den neuromorphen Computersystemen der Chinesen: Keine Transistoren mit ihrer 0/1-Welt, sondern lebensnahe Neuristoren, die mit gekoppelten Quantencomputern unglaubliche Leistungen der Künstlichen Intelligenz hervorbringen können. Damit kann die digitale Welt der Computer direkt mit dem analog denkenden Gehirn kommunizieren. Man benötigt keine manuellen Interfaces mehr, sondern steuert Maschinen mit der Kraft der Gedanken.

Jochen, dieses große, fortschrittsgläubige Kind, merkt gar nicht, dass mir seine Visionen nicht nur die Sprache, sondern fast den Atem verschlagen. Sollen Maschinen etwa meine Gedanken lesen können? Was fangen die Apparate damit an? Unfassbar! Das ist doch schon wieder ein Eingriff in meinen Haushalt. Dann ist es mit der Meditation wohl auch endgültig vorbei …

Aber mein Enkel ist nicht mehr stoppen. Er erzählt von speziell gezüchteten Xenobots. Das sind wohl lebende Zellen, die wie Roboter programmiert werden und dann ausschwärmen können, um bestimmte Aufgaben zu erfüllen. Sie reinigen bereits das chinesische Meer von Mikroplastikpartikeln. Aus menschlichen Krebszellen erzeugte Xenobots transportieren bei Patienten schon Medikamente in den Tumor, indem sie sich mit ihren kleinen Geißeln im Blut fortbewegen. Andere Xenobots sollen gezielt die Kalkablagerungen in den Arterien entfernen.

Gegen Ordnung und Saubermachen habe ich ja nichts, aber doch nicht in meinem Inneren! Und schon gar nicht mit derart perfiden Methoden. Bei der bloßen Vorstellung juckt es mir überall. Ich sehe schon Roboter-Ameisen durch meine Hirnwindungen rasen und spüre, wie mich die winzigen Tiermaschinen auffressen. Das ist doch wie artifizieller Urwald, nachdem man den echten zerstört hat. Merkt der Knabe überhaupt nicht, welche Horrorvision er da gerade wieder aus dem Hut zaubert? Als ich entsetzt meine Hände vor dem Kopf zusammenschlage, wird er endlich auf mich aufmerksam. Und wechselt schnell das Thema. Wir wollten ja über meinen digitalen Zwilling reden. Dive sollte endlich mal mit dem echten Menschsein konfrontiert werden.

Und da redet er sich gleich wieder in Trance. Dive könnte zu echtem Leben erweckt werden, es gebe jetzt elastisches Biogel, womit man Roboter mit einer lebensechten Haut versehen kann. Dann könnte ich mein digitales Ebenbild richtig anfassen und müsste nicht mehr auf ein Hologramm starren.

Tolle Idee, aber ich will die arrogante Kuh gar nicht anfassen. Von mir bekommt die Diva allenfalls eine saftige Ohrfeige! – Mal sehen, wie die Silikon-Pansche auf solch authentische Berührungen reagiert. – Mein Gott, was ist mein Enkel doch für ein verblendeter Nerd! Und ich bin bedient und beende das Videogespräch. In Doc Ferdinands IT-Team springen bestimmt auch solche Freaks herum und träumen von ihrer unsterblichen Cyberwelt. Nein – diesen Trip werde ich boykottieren und der Ruhm als bahnbrechendes Versuchskaninchen kann mir auch gestohlen bleiben.

  1. Mai 2033 – Mittwoch

Meine lieben Männer und ich haben sich heute Morgen in einer Videokonferenz zusammengeschaltet. Ich erzähle von meinem gestrigen Telefonat mit Jochen und sie hören mir ungläubig zu. Dann schlägt Thorsten vor, Doc Ferdinand und seine Crew mit einem Schwarm Xenobots zu infizieren, welche die Gehirnwindungen von den digitalen Schlacken bereinigen sollen. Und Frank überlegt schon, mit welchen psychedelischen Pilzen er die Tiermaschinen in einen Rauschzustand versetzen könnte. Mein Gesundheitsinspektor Wilhelm hat eine ganz praktische Idee: Er wird die Laborräume der ganzen IT-Truppe aus rechtlichen Gründen einfach dichtmachen, weil es ihnen nämlich von vorne bis hinten an Zertifizierungen fehlt! Und ich werde Doc Ferdinand vorschlagen von seiner Frau ein digitales, lebensechtes Duplikat herzustellen. Dann hat er den Spaß mal im eigenen Wohnzimmer!

Quelle Text: Manfred Kindler mt-medizintechnik Heft 4/2021

Quelle Bild: Mirjam Bauer

 

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