Kolumne: Tagebuch der Vera Neumann aus dem Jahr 2033, Teil 5

(September 2019) Vera Neumann, geboren am 21. November 1966, verwitwet, jetzt 66 Jahre alt, lebt allein in einer Kleinstadt. Sie ist Krebspatientin und arbeitet noch als Pflegemanagerin in einer Senioren-WG. Und: Sie schreibt seit vielen Jahren ein Tagebuch. Einblicke in ihre Gedankenwelt erhalten Sie exklusiv in mt-medizintechnik.

Anruf aus China

  1. März 2033 – Samstag

Heute frühmorgens weckt mich sanft mein smartes Kopfkissen. Ein Videoanruf von Jochen, meinem Enkel in China. Er wollte nur Vollzug melden: sein KI-Doktor hat Entwarnung gegeben. Der verdächtige Schweiß auf seinem T-Shirt stammte wohl von seiner neuen Bekannten, als sich beide auf einer Party zu lange zu nah gekommen waren. Dafür hat sie jetzt den Medizindoc am Hals.

Jochen sieht trotzdem irgendwie verändert aus. Warum? Unser aufklärendes Gespräch hat mein Video­master aufgezeichnet:

„Jochen, du trägst ja eine Brille! Sind deine Augen etwa schlechter geworden? – Nein Vera, das ist mein Alibaba-Glass. Ich hatte gerade vorher noch eine Verhandlung mit einem Businesspartner.

Und dafür brauchst du diese komische Brille? – Vera, das ist keine normale Brille. Es ist ein Miniterminal und besitzt eine Videokamera, einen Mikrocomputer und eine Verbindung mit meinem KI-Manager.

Seit wann braucht man so etwas für ein Gespräch? –  Ohne den geht es nicht, Vera. Ich kann doch kein Chinesisch. Mein Alibaba übersetzt das gesprochene Wort direkt ins Deutsche oder Englische und spiegelt mir den Text als Untertitel ein. Oder er flüstert es mir simultan ins Ohr.

Das ist ja toll. Du meinst, dein Ali kann jede fremde Sprache sofort übersetzen? – Nicht nur das, Vera. Er schreibt anschließend ein Gesprächsprotokoll, analysiert Stimme und Mimik meines Gegenübers. Sofort verrät er mir seine Stimmung: lügt er gerade oder ist er nur unsicher? Glaubt er mir nicht?

So, als wenn da noch ein heimlicher Beobachter dabeisitzt? Ist ja gruselig. – Noch viel besser: er ist mein Lexikon. Ich kann mir keine chinesischen Gesichter merken, sie sehen oft so ähnlich aus. Mein Alibaba erkennt sofort das Gesicht, sucht den Lebenslauf der Person heraus, verrät mir ihre Vorlieben und Abneigungen, checkt den Gesellschaftsstatus anhand des China-Scores ab. Und nebenbei schlägt mir vorab einen passenden Text für den Smalltalk vor.

Ach Jochen, du warst ja noch nie ein guter Redner. Aber dass da jetzt so eine KI-Maschine jeden Gesprächspartner nackt ausziehen kann, das ist mir unheimlich. Macht die das etwa auch mit mir gerade? – Nein, natürlich nicht, Vera. Momentan zeigt mein Bildschirm nur die aktuellen Börsenkurse. Ich könnte dir jetzt auch ein Frühstück bestellen oder deine Lokalnachrichten vorlesen. Alibaba versteht mein Augenzwinkern, mein Nasenzucken, meine Handbewegungen und meine gesprochenen Worte – wie ein menschlicher Assistent.

Jetzt kommt mir das so vor, als wenn du einen Zaubergeist mit dir rumträgst. Was sagen denn die anderen Leute dazu? – Ach, die sind das gewohnt. Vera, vergiss nicht, dass mein Gesprächspartner genauso eine Brille trägt, die ihm meine Worte in seinen chinesischen Dialekt übersetzt. Nur stehen ihm bestimmt noch alle Geheimdienst-Informationen über mich zur Verfügung.

Aber Jochen, was ist denn das für eine Gesprächs-Atmosphäre? Früher hatte man einen Lügendetektor, um die Gauner zu entlarven. – Alibaba ist besser. Jetzt gewinnen nur die Ehrlichen in den Verhand­lungen. Leider funktioniert das nicht immer. Gut trainierte Schauspieler konnten schon damals die Lügendetektoren überlisten. Die bieten heutzutage teure Anti-Alibaba Seminare an, damit man sich perfekt verstellen kann.“

Das Gespräch hat mich danach deprimiert. Wir geraten immer mehr in die Fänge der Maschinen. Und das Ergebnis? Die abge­brühten Schurken gewinnen und hauen die Ehrlichen übers Ohr. Wo bleibt da unsere Privatsphäre? Kann ich mich überhaupt noch mit einem Brillenträger unbefangen unterhalten?

Ich brauche jetzt wieder eine Unterhaltung mit einem echt altmodischen Menschen. Da wäre Dr. Rath bestimmt der Richtige. Nächstes Wochenende werde ich ihn mal wieder besuchen.

Quelle Text: Manfred Kindler, mt-medizintechnik Heft 3/2019

Quelle Bild: Mirjam Bauer