Kolumne: Tagebuch der Vera Neumann aus dem Jahr 2033, Teil 8

(Januar 2020) Pflegemanagerin Vera Neumann (66) wird in ihrer Senioren-WG von KI-Robotern unterstützt. Entnervt von den vielen virtuellen Gestalten um sich herum, beschließt die krebskranke Dame, ihren pensionierten Hausarzt Dr. Rath zu besuchen. Nach den vielen Avataren möchte sie endlich wieder mit einem menschlichen Wesen reden. Beim letzten Besuch traf sie ihn im Krankenhaus-Museum seiner alten Klinik an. Hier stoßen analoge und digitale Welt aufeinander.

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Menschliche gegen künstliche Intelligenz

  1. März 2033 – Freitag

Ich bin mit dem Roboterbus wieder in Ruhr-City gelandet. Auf das Gespräch mit meinem alten Hausarzt freue ich mich schon seit zwei Wochen. Als ich den Eingang des St. Josef-Hospitals in Castrop-Rauxel betrete, trifft mich ein Schlag: Mein hochverehrter Dr. Rath steht auf der Rezeptionstheke und begrüßt mich als 19.867. willkommenen Besucher des Krankenhaus-Museums. Er ist nur dreißig Zentimeter groß und glitzert etwas in der Luft. Ich möchte ihn anfassen und greife nur in die Luft. Ein Hologramm! Er fragt mich mit seinem sonoren Bass nach meinen Wünschen.

Nachdem ich meine Überraschung überwunden habe, sage ich dem Ding, dass ich Dr. Rath im Analog­modus sprechen möchte. Der Mini-Rath verbeugt sich, überreicht mir ein Tablet und schickt mich in den Herz-Op-Saal. Dort findet gerade eine Transplantation stattfindet. Die aufgeregten Besucher tragen alle eine AR-Brille und umringen einen lebensechten Körper, der auf dem alten Op-Tisch liegt. Im Hintergrund steht mein Dr. Rath und programmiert amüsiert ein paar Komplikationen für die Simulation. Große Auf­regung entsteht bei den Möchtegern-Chirurgen, als sich herausstellt, dass das Spenderorgan etwas zu groß für den Brustkorb ist.

Ich gestehe, ich konnte nicht anders, aber ich musste meinen geliebten Dr. Rath umarmen. Endlich wieder ein Arzt zum Anfassen. Ich erzähle ihm von meinem Schock, als ich am Eingang seinen Avatar begegnet bin. Etwas gerührt berichtet er, dass dort ursprünglich ein Empfangsroboter mit seinem Gesicht geplant war. Er hat sich aber dagegen gewehrt und nun gibt es nur sein holografisches Abbild, welches ein paar tausend Textbausteine beherrscht.

Er hat mich in sein Haus zu einem Abendessen eingeladen – welche Ehre für mich. Er wohnt in einem siebzig Jahre alten Haus „ohne die elektronischen Kinkerlitzchen“, wie er sagt. Sehr gemütlich mit alten Möbeln eingerichtet. Er hat eine Gemüsesuppe gekocht, dazu einen Blattsalat mit Tomaten. Alles schmeckt mir sehr ungewohnt, aber sehr lecker. Er lacht: „alles aus meinem Garten, selbst angebaut“. Er muss seine guten Bakterien im Darm füttern, damit sie Krankheiten fernhalten. Er empfiehlt mir ein außergewöhnliches Restaurant, weit abgelegen im Münsterland. Ein Geheimtipp – der Besitzer ist ein wahrer Kochkünstler und bewirtet nur wenige, besonders ausgesuchte Gäste mit einer persönlichen Empfehlung. Er hat sich eine eigene Oase geschaffen, in der er fast alle Zutaten selbst anbaut und züchtet. Ich lerne an diesem Abend sehr viel über Ernährung und ihre Auswirkung auf die Gesundheit.

  1. März 2033 – Samstag

Der gestrige Abend ist lang geworden, besonders nachdem er noch eine Flasche edlen Rotweins aufge­macht hat. Da es für eine Rückreise zu spät wurde, durfte ich in seinem Gästezimmer übernachten. Wir führten philosophische Gespräche über die Auswirkungen der Online-Welt, die Entfremdung der Men­schen von der Natur, die Flucht in die Virtual Reality aus Angst vor dem Tod.

Ich erfahre, was einen menschlichen Arzt vom KI-Doc unterscheidet: Der Hausarzt macht sich Sorgen um einen Menschen. Er trauert bei seinem Tod. Und er kann sich über eine Heilung freuen. Ein KI-Doc kann das alles nur simulieren, es ist nicht echt. Ihm ist das menschliche Schicksal eigentlich egal, er sieht seinen Auftrag rein technisch.

Er spielt mir eine Musikaufnahme von der Mondscheinsonate von Beethoven vor. Absolut präzise gespielt von einem Roboterpianisten. Danach legt er eine angestaubte CD mit demselben Klavierkonzert auf, diesmal interpretiert von Vladimir Horowitz. Dort dauert das Adagio zwei Minuten länger. Diese meisterhafte Darbietung ist unvergleichlich sensibler und ausdrucksstärker. Ich bekomme beim Hören eine Gänsehaut.

Wir frühstücken in seinem Wintergarten mit Blick auf seinen Garten. Herrlich – frischgebackenes Brot, einen Kräutertee, dazu Marmeladen aus wildgewachsenen Hagebutten, Schlehen- und Holunderbeeren. Dazu einen Apfelsaft – alles ohne irgendwelche chemischen Zusätze.

Beim Verabschieden gibt er mir noch auf den Weg, dass man mit einem Roboter nicht tanzen kann. Und empfiehlt mir einen Kurs bei seiner Bekannten Heidi, einer begnadeten Trainerin des Tango Argentino.

Kaum bin ich zu Hause zur Tür herein, fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Warum das ganze Brimborium mit Mondschein und Marmelade? Dem alten Herrn ist wohl ein wenig warm ums Herz geworden… – Will er womöglich mit in den Kurs? Ich bekomme bei der Vorstellung einen heißen Kopf und muss unwillkürlich an meinen KI-Doc denken…

Quelle Text: Manfred Kindler, mt-medizintechnik Heft 6/2019

Quelle Bild: Mirjam Bauer