Kolumne: Tagebuch der Vera Neumann aus dem Jahre 2033, Teil 6

(Oktober 2019) Vera Neumann, 66 Jahre alt, lebt allein in einer Kleinstadt und arbeitet als Pflegemanagerin in einer Senioren-WG, unterstützt von KI-Doktoren und Pflegerobotern. Als bei ihr ein seltener Hautkrebs entdeckt wird, lernt sie die Hochleistungsmedizin 2033 am eigenen Leibe kennen. In ständigem Kontakt mit Enkel Jochen, der als Geschäftsmann in China arbeitet, erfährt sie Erstaunliches über die digitalen Welt: Eine Brille übersetzt Gespräche in fremden Sprachen simultan und kann dabei intime Daten einblenden. Ihr Tagebuch lesen Sie exklusiv in mt-medizintechnik.

Mein digitaler Zwilling

  1. März 2033 – Sonntag

Das Telefonat mit Jochen hat mich den ganzen Sonntag beschäftigt. Redet er überhaupt noch direkt mit richtigen Menschen? Okay, so’n Alibaba ermöglicht ihm ja die Unterhaltung mit Menschen in jeder beliebigen Sprache. Wofür soll man dann überhaupt noch Fremdsprachen lernen? Aber diese blöden Brillen zerstören doch jede natürliche Beziehung. Gut, dass meine Senioren in unserer WG noch persönlich und ungefiltert mit uns reden.

Aber Moment mal, tun sie das wirklich? Ist das wirklich noch ein Gespräch von Mensch zu Mensch? So wie bei meinem letzten Treffen mit Dr. Rath? Oder tauschen wir nur noch Textbausteine und Phrasen aus, ohne eine emotionale Beziehung zum Gegenüber?

Es soll ja immer mehr Singles geben, die sich gar nicht mehr die Mühe machen, in einer Partnerschaft zu leben. Viel zu anstrengend. Sie flirten lieber mit ihren digitalen Assistentinnen wie Alexa. Jochen hat mir von Xiaoice erzählt, dem Hologramm-Mädchen mit einer halben Milliarde Verehrer in China. Die Chatbots sind mittlerweile so weit entwickelt, dass man sie nicht mehr von menschlichen Gegenübern unterscheiden kann. In der Werbung schreiben sie immer: Turing-Test mit Glanz bestanden! Ist unsere Media-KI Cornelia vielleicht auch schon längst so eine bezirzende Quatschtante geworden? Ich habe mich jedenfalls noch nicht in Ferdinand und Gottfried verliebt. Das sind doch alles nur Maschinen, – na ja, zugegeben … wenn auch besonders charmante Gesprächspartner!

  1. März 2033 – Montag

Heute Morgen, ich war gerade beim Anziehen, hat sich schon meine Klinik gemeldet. Einfach so im Spiegel. Also wirklich! Etwas mehr Privatsphäre hätte ich schon gerne! Ich werde jetzt einen Vorhang davorhängen. Sie haben mich zu einem dringenden Treffen in das Gesundheitszentrum gebeten. Ein Flugtaxi wartet in zehn Minuten vor meinem Eingang. Ich habe Angst. Haben sie was Schlimmes herausgefunden?

Ich bin wieder zurück. Keine schlechten Nachrichten. Ich hatte ein langes Gespräch mit zwei Ärzten. Beide waren richtig zum Anfassen, da war kein KI-Doc dabei. Sie haben was ganz Verrücktes mit mir vor. Ich leide ja an einer besonders interessanten Variation des Hautkrebses. Jetzt wollen sie dafür einen Impfstoff entwickeln. Aus meiner Erbsubstanz. Dazu brauchen sie Kopien von meiner RNA. Die wird dann in Nanokügelchen verpackt und in die Zellen anderer Patienten geschmuggelt, um dort deren Immunsystem zu alarmieren. Und ich soll mich jetzt für die klinische Erprobung dieser RNA-Therapie zur Verfügung stellen, also quasi als Versuchskaninchen. Es soll aber keinerlei Risiko für mich bestehen. Sie wollen mich irgendwie klonen. Dazu muss ich morgen nochmals hin.

  1. März 2033 – Dienstag

Jetzt habe ich endlich verstanden, was gestern das Gerede von meinem Zwilling sollte. Ich habe demnächst tatsächlich einen digitalen Zwilling, an dem die klinischen Versuche durchgeführt werden. An meiner Stelle spielt er das Versuchskaninchen. Die Klinikexperten bilden meinen Körper mit allen wichtigen Organfunktionen, den Labor- und DNS-Daten im Computer digital nach. So simulieren sie die Reaktionen meines Immunsystems auf die entwickelten Impfstoffe. Ich werde also jetzt in einem Computer gespiegelt – als digitale Vera Neumann.

Mein Zwilling wird permanent über meine Reaktionen auf Medikamente informiert, aus einer Art komplizierten Petrischale. Dort werden meine Organsysteme in einem raffinierten Kunststoffgehäuse nachgebaut. Sie nennen es Patient-on-a-chip. Dazu haben sie mir unter Narkose Zellen aus Magen, Darm, Leber, Niere und sonstwo entnommen und lebend auf diesem Chip aufgebracht. Dessen Sensoren reagieren auf alle Substanzen und melden sie direkt an meinen digitalen Zwilling. Mit dem analogen Vera-on-a-chip können die Ärzte jetzt nach Herzenslust herumspielen, ohne mich selbst zu belästigen oder gar schädigen. Alle möglichen Konzentrationen ausprobieren, Nebenwirkungen studieren, Medikamente kombinieren, also eine tolle Sache. Früher mussten sie dazu aufwändige Klinikstudien durchführen und es hat sehr lange gedauert, bis ein Medikament endlich eine Zulassung erhalten konnte. Und bei den künftigen Patienten testen sie die Krebsbehandlung auch vorher mit einem solchen Patient-on-a-chip auf Wirksamkeit und Nebenwirkungen.

Jetzt gibt es mich auch wohl als Maschinenmensch, oder? Die neue Vera im Computer.

Quelle Text: Manfred Kindler, mt-medizintechnik Heft 4/2019

Quelle Bild: Mirjam Bauer