Kolumne: Tagebuch der Vera Neumann im Jahr 2033, Teil 10

(Juli 2020) Pflegemanagerin Vera Neumann (66) wird in ihrer Senioren-WG von KI-Robotern unterstützt. Beim letzten realen Treffen mit ihrem Hausarzt fühlte sich die Krebskranke wieder in die alte analoge Welt versetzt. Ein Geheimtipp des Arztes führt sie in ein verstecktes Restaurant tief im Münsterland. Der Besitzer Frank will ihr die Genüsse von echten Nahrungsmitteln nahebringen. Dazu muss sich Vera aber erst mal schick machen.

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  1. März 2033 – Samstag

Endlich ist es so weit: Ich habe für morgen eine Einladung zu dem Münsterländer Restaurant erhalten, das mir Dr. Rath vor einer Woche empfohlen hat. Ich bin ganz aufgeregt. Ein einmaliges Genusserlebnis soll mich dort erwarten. Da kann ich aber nicht mit meinen Allerweltsklamotten auftauchen. Ich brauche unbedingt etwas schickes Neues.

Normalerweise probiere ich meine Fummel analog, aber es eilt. Mein virtuelles Kaufhaus Amazon hat mich zuerst aufgefordert, mich in Unterwäsche vor meinem Badezimmerspiegel zu drehen. Wohl zur Strafe, weil ich ihm nicht erlaubt habe, die Körperdaten von meiner digitalen Vera zu übernehmen. – Woher wissen die überhaupt davon?

Im Spiegel – praktisch ist der Spion ja doch – konnte ich mir dann ein Dutzend Kleider anschauen. Komisches Gefühl: Ich sehe mich dort erst in Natur – und plötzlich erscheine ich, wie durch Zauberhand, mit anderen Sachen am Körper. Ich kann mich sogar dabei drehen und wenden. So realistisch, dass ich sie direkt anfassen möchte. Die digitale Verkäuferin kennt meine Wünsche besser als ich. Was Gott nicht weiß, bemerkt Amazon. Vom Stil her passt jedenfalls alles perfekt. Bei den neuen Schuhen stelle ich fest, dass der allwissenden Boutique sogar die genauen Maße meiner Einlagen bekannt sind.

Am Abend, mitten in der Entspannungsübung, knallt etwas sturzvogelhaft auf meine Terrasse. Irgendein Idiot hat die Drohne mit meinem Paket vorzeitig vom Himmel geholt. Die neue Kollektion ist aber unversehrt. Den Schrott entsorge ich in den Hausmüll. Eigentlich besteht Meldepflicht.

Ein Etikett informiert mich darüber, dass eine Menge Sensoren im neuen Stoff eingebaut sind, die laufend meinen Körperzustand überwachen. Bei einer kritischen Situation alarmieren die Chips sofort den Notdienst. Na, dann muss ich nicht mehr um Hilfe rufen und bin bestens behütet.

Ein echter Mann als Begleiter wäre mir aber tausendmal lieber. Ich denke an Dr. Rath, aber der ist verhindert. Er muss für sein Krankenhausmuseum einen Massencrash simulieren. Ein Landesminister will morgen feierlich mit einer spektakulären Show die neueingerichtete Unfallstation einweihen.

  1. März 2033 – Sonntag

Schon früh am Morgen werfe ich mich in die neue Schale und informiere meinen Internetdoc Ferdinand über den geplanten Ausflug. Wäre wahrscheinlich gar nicht notwendig gewesen. Der überwacht bestimmt auch alle meine Klamottensender.

Diesmal bestelle ich ein Robotertaxi, denn ich will meine Ruhe haben. Doch während der fast zweistündigen Fahrt durch die Pampa quatscht mir der Blechkasten die Ohren mit Werbung voll. Ich hätte Ohrenstöpsel mitnehmen sollen. Dann sind wir endlich da. Es sieht aus wie ein Naturreservat – überall grünt und blüht es, Vögel zwitschern, Eichhörnchen springen herum – der reinste Kitsch, aber schön ist es doch.

Und dann kommt er an das Tor – Frank: Strohhut, Latzhose, Vollbart, Lachfalten im gebräunten Gesicht, fester Händedruck, eine Stimme wie Butter. Ein richtiger Mann mit Geruch und Aura eben, keiner von diesen stilisierten Cyberfuzzis.

  1. März 2033 – Montag

Ich bin noch ganz benommen von den Eindrücken und mein Kopf raucht von den vielen Informationen, die Frank mir gegeben hat. Und erst das Essen. Unvorstellbar. Frank hat alles selbst gezüchtet, geerntet, vorbereitet, auf einem richtigen alten Herd gekocht und geschmort, die Eigenschaften und Wunder einer jeden Zutat erläutert – alles nur für mich allein. Dr. Rath hatte ihm aufgetragen, dass er sich richtig Zeit für mich nehmen soll. Aber dass er dafür auf alle anderen Gäste verzichtet?

Als ich beim Abschied bezahlen wollte, hat er mir verraten, dass er früher auch an Krebs erkrankt war und ihn nur durch seine Ernährung und sein Landleben losgeworden ist. Er will kein Geld, weil ihm der Tag mit mir gutgetan hat.

Dafür bin ich gestern Abend inspiriert und vollbepackt nach Hause gekommen. Frank hat mir Gewürze, Früchte, Gemüse, Nüsse, Öle und Säfte als Proben für meinen Einstieg in die Vollwertwelt mitgegeben. Ich soll sofort weg von diesen Filets aus Retortenfleisch und Petrischalenfisch, wie er es verächtlich nennt. Er hat mir auch Samen und kleine Setzlinge eingepackt, und ich habe gleich angefangen zu pflanzen und zu kultivieren. Meine Küche ist jetzt mein Treibhaus und ich komme mir vor wie eine Kräuterfee aus dem vorigen Jahrhundert. – Was ich hier tue, ist heute so verboten wie damals der Cannabis-Anbau, und das Hygrometer in meinem Smart Home meldete zunächst auch Daueralarm. – Ich habe eine Plastiktüte drübergezogen. Seitdem herrscht Ruhe. Schließlich geht es hier um meine Gesundheit, und Naturprodukte sind ja nicht mehr im Handel – zu unrentabel. Jetzt bin ich gespannt, was Dr. Rath zu meinem Retro-Trend sagt.

Quelle Text: Manfred Kindler, in www.mt-medizintechnik Heft 2/2020

Quelle Bild: Mirjam Bauer