Kolumne: Tagebuch der Vera Neumann im Jahr 2033, Teil 11

(August 2020) Pflegemanagerin Vera Neumann (66) wird in ihrer Senioren-WG von digitalen Ärzten und KI-Robotern unterstützt. Aktuell schätzt sie auch wieder die alte analoge Welt, trifft den früheren Hausarzt, ein Restaurant etc… Nach dem Besuch in einem alternativen Restaurant (Frank) versucht Vera Neumann, die vegetarische Lebensweise mit Naturprodukten in die Praxis umzusetzen. Allerdings hat sie mit einigen Hindernissen im ihrem Smart Home zu kämpfen.

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  1. März 2033 – Montag

Mein Kühlschrank ist total verwirrt. Auf keinem der neuen Lebensmittel findet er eine ID-Kennung. Er hat dann gleich meinen Internet-Doc darüber informiert, dass ich nichtidentifizierbare Substanzen eingelagert habe. Als ich dann auch noch Fleisch und Fisch herausgenommen habe, wollte er gleich nachbestellen. Um das zu verhindern, habe ich einfach das Stromkabel abgezogen – und den Alarm ausgelöst. Sogleich stand ein Monteur vor meiner Tür und begehrte Einlass. Nur mit Mühe konnte ich ihn davon überzeugen, dass alles seine Richtigkeit hat, und bat ihn, das Nachbestellprogramm zu stoppen.

Ich trauere den alten Zeiten nach, als ich noch einen strohdummen Kühlschrank hatte, der einfach nur tat, was er sollte: kühlen. Und meinen analogen Mülleimer hätte ich auch gern wieder. Nicht so eine neugierige Müllschluckanlage, die mich penetrant darauf hinweist, dass meine weggeworfenen Lebensmittel noch gebrauchsfähig sind. Das hochsensible Ding detektiert einfach alles, aber auf meine Geschmacksnerven nimmt es keinerlei Rücksicht.

Nach dieser Aufregung habe ich mir ein tolles, rein vegetarisches Mittagessen aus den Gaben von Frank zubereitet und mit Hochgenuss gegessen. Prompt meldete sich mein Blechdoktor Ferdinand im Fernseher und warnte mich eindringlich vor dem Verzehr von unzertifizierten Nahrungsmitteln. Ich habe ihn dann angelogen und wie die Unschuld vom Lande behauptet, dass ich „biologische Studien“ durchführen möchte.

  1. März 2033 – Dienstag

Er gibt keine Ruhe. Heute hat mir Doc Ferdinand wegen meines unvernünftigen Verhaltens eine Gardinenpredigt gehalten. Was hatte ich verbrochen? Ich habe „unkontrollierte Substanzen“ zu mir genommen, was mein Gesundheitsrisiko wesentlich gesteigert hat. Deswegen soll ich mich morgen Nachmittag im Labor zu einer Blutentnahme melden, damit sie meinen digitalen Zwilling wieder aktualisieren können. Muss der virtuelle Twin jetzt auch noch über meine Verdauung Bescheid wissen? Und wer hat mich da wieder reingerissen? – Aber klar, ich dumme Kuh habe mich wohl selbst geoutet, als ich meinem Freund Rath ein Video von meinem Festmahl geschickt habe. Meine smarte Wohnung sieht alles und das Internet kennt erst recht keine Geheimnisse.

  1. März 2033 – Mittwoch

Seitdem ich mich für meine Gesundheit entschieden habe, erhalte ich auf meinen Schirmen permanent Werbebotschaften: saftige Steaks, Koteletts, Schnitzel, Gulasch, Wurst, aber auch geräucherte Forellen, eingelegter Thunfisch – „Vitalisierend und lecker. In Kultur mit allen wichtigen Vitaminen und Mineralien inkubiert und tagesfrisch dekantiert. Wir bieten Ihnen nur das Beste – aus der Retorte!“ Und vor meiner Haustüre schwirren die Drohnen so zahlreich wie früher die echten Bienen und stapeln Probehäppchen und Sonderangebote. Aber ich möchte keine kulinarische Gehirnwäsche und habe einfach alle Päckchen vor die Nachbarwohnungen gelegt. Mich ekelt das alles an. Bestimmt war es der Müllschlucker, der meine Adresse an den Artificial Food Store weitergegeben hat. – Sie schärfen mein Profil und ich werde immer dünnhäutiger und durchsichtiger, so transparent wie eine Wasserflasche …

  1. März 2033 – Donnerstag

Allmählich fühle ich mich kriminalisiert: Heute Morgen hatte ich unangemeldeten Besuch von einem Hygiene-Ingenieur namens Wilhelm Waterkamp. – Eigentlich ein netter älterer Herr, aber im Grunde wieder so ein alarmierter Sendbote, der bei mir nach dem Rechten sehen sollte. Anfangs gab er sich auch ziemlich unterkühlt und distanziert, denn er hat bei mir wohl so etwas wie den hygienischen Super-GAU erwartet. Ich war schon auf eine Menge Ärger gefasst, als er meine Naturecke in der Küche entdeckt hat. Aber plötzlich ist der graue Eisklotz aufgetaut. Fasziniert roch er an meinen Gewürzen und Kräutern, streichelte meine Setzlinge und fragte, ob er ein Blättchen von der Minze abreißen darf. Ich habe nur die Augen aufgerissen und mit kaum merklichem Nicken meine Zustimmung gegeben.

Er kaute das Grünzeug so genussvoll wie eine Praline, bekam dabei rote Bäckchen und leuchtende Augen wie ein Kind. Begeistert fragte er mich, woher ich die ganzen Raritäten bekommen habe. Dann wurde Willi Waterkamp ganz melancholisch, denn er selbst war einst stolzer Besitzer eines Schrebergartens und sein Paradies ist jetzt eine Bürolandschaft mit Ficus benjamini aus Polyester.

Zum Trost bot ich ihm ein paar Samen und Setzlinge an, und gemeinsam überlegten wir, was er jetzt wohl in seinen Bericht schreiben könne. Wir einigten uns auf ein paar kleinere hygienische Schwachstellen in meiner „biologischen Studie“. So empfahl er grinsend, überflüssige Erde und abfallende Pflanzenreste als Sondermüll zu deklarieren, um eine Kontamination unserer sterilen Umwelt zu vermeiden. Und schmunzelnd fügte er hinzu, dass ich bei der Arbeit mit meinen Pflanzen unbedingt Handschuhe und Mundschutz zu tragen habe.

Willi versprach, bei meiner ersten Ernte vorbeizukommen. Er müsse schließlich die Einhaltung aller Sicherheitsvorschriften kontrollieren. – Ich freue mich darauf und werde ganz ungeschützt etwas Köstliches aus meiner Vollwertecke kochen!

Quelle Text: Manfred Kindler in mt-medizintechnikt Heft 3/2020

Quelle Bild: Mirjam Bauer