Kolumne: Tagebuch der Vera Neumann im Jahr 2033, Teil 13

(November 2020) Pflegemanagerin Vera Neumann (66) wird in ihrer Senioren-WG von digitalen Ärzten und KI-Robotern unterstützt, doch sie schätzt ebenso die reale Welt. Die Sensibilisierung ihrer Schützlinge in der Senioren-WG durch Schnuppern an Naturkräutern hat nicht die gewünschte Wirkung gezeigt. Zu allem Überfluss sind auch ihre Kolleginnen sauer, weil sie den Routinebetrieb durcheinandergebracht hat. Aber Vera lässt sich in ihrem neuen Lebensgefühl nicht verunsichern und strebt nach weiteren Erfahrungen.

Ihr Tagebuch lesen Sie exklusiv in mt-medizintechnik.

4. April 2033 – Montag

Gestern Abend habe ich mich aufgerafft und Thorsten Rath angerufen. Jetzt ist es so weit. Wir werden tanzen gehen! Ich bin furchtbar aufgeregt. Es ist schon Jahrzehnte her, dass ich mal richtig das Tanzbein geschwungen habe. Und ich freue mich riesig auf ihn. Bin ich womöglich verliebt? Nein, wird wohl nur die Aufregung sein. Leider muss ich bis Mittwoch warten, weil er vorher noch bei neuen Simulationen in seinem Krankenhausmuseum eingespannt ist.

7. April 2033 – Donnerstag

Ich bin noch ganz berauscht vom gestrigen Abend. Mein Tanzrhythmus war zunächst ganz schön eingerostet, so viele Muskeln und Gelenke mussten bei mir aktiviert werden. Mein Gehirn lief dabei auf Hochtouren. Aber dank der Unterstützung durch unsere Tangolehrerin Heidi und ihrer lebensfrohen Truppe legte ich dann richtig los. Thorsten ist ein begnadeter Tänzer und er führte mich perfekt. So viel Schwung hätte ich dem Senior gar nicht zugetraut. – Senior? Ach was, beim Glück kommt es aufs Alter nun wirklich nicht an: Am Ende waren wir beide ganz schön aufgekratzt und ausgelassen und haben nur noch gelacht und uns geknufft wie die Teenager. Und auf der Rückfahrt haben wir uns dann einfach mal geküsst! – Tja, so ist es wohl doch kein Klischee, das große Knistern bei diesem Schwof, denn es ist wahr: Der Tango bringt einen ganz schön in Wallung … und jetzt warte ich auf seine rundum vitalisierende Wirkung. Vielleicht hilft Tanz-Therapie. Und Thorsten? Mal sehen … Wenn er auch nach dem Gewirbel nicht mehr ganz so gut gerochen hat – er ist doch ein sehr lieber Kerl und ich muss sagen, es hat alles etwas wunderbar Leichtes bekommen. Aber ein bisschen unheimlich ist es auch.

8. April 2033 – Freitag

Das war`s wohl mit dem unbeschwerten Feeling. Die Klinik hat sich wieder bei mir gemeldet. Ich soll am Montag zu einer Besprechung erscheinen, es ist dringend. Vielleicht haben die ganzen Sensoren in meinem Kleid den Jungbrunnen gestern nicht vertragen und beim Tanzen verrückt gespielt? Hoffentlich ist nichts Schlimmes festgestellt worden. Ich fühle mich eigentlich blendend. Darf ich das? Oder muss ich mich danach richten, was die Sensoren sagen? Am Ende bringt mir die ständige Überwachung meine Gefühlswelt noch komplett durcheinander. Als ob das alles nicht schon aufregend genug wäre.

  1. April 2033 – Montag

Man glaubt es nicht! Die Klinikmannschaft ist unzufrieden mit mir. Meine digitale Vera stimmt nicht mehr mit meinen aktuellen Teledaten überein. Das beunruhigt sie sehr, weil diese Situation in ihrem Modell nicht vorgesehen war. Mein Stoffwechsel und mein Hormonhaushalt haben sich seit kurzem stark verändert. Na, für mich ist doch klar: gesunde Ernährung und Verliebtsein – wie kriegt man so etwas in ein Elektronengehirn rein? Und ist das etwa schlimm? Ich werde mich doch als realer Mensch nicht an so einen digitalen Zwilling anpassen und für jede schöne eigene Regung eine Genehmigung einholen.

Veganes Essen? Tanzen? Was macht das mit einem Menschen? Sie wissen es nicht, die Herren Internetdoktoren! Sie klammern sich nur an ihre Messwerte und reduzieren das Leben auf Nullen und Einsen. Jetzt sind sie ratlos. Sie brauchen mehr Daten. Ich soll jetzt jeden Tag eine besondere Pille schlucken, die ein Minilabor beinhaltet und dann laufend Daten von meinen Verdauungsvorgängen an die Zentrale funkt.

Diese Prozedur würde ich ja noch mitmachen. Vielleicht lernen sie dann den Wert einer gesunden Kost endlich zu schätzen. Aber was ich absolut unverschämt fand: Ich soll während des Tanzens mit Thorsten verkabelt werden, damit sie herausfinden, was mit meinen Hormonen passiert. Also nein, da haben sie aber was von mir zu hören bekommen. Irgendwo fängt auch mein Intimbereich an. Ich habe dann vorgeschlagen, sie sollten lieber ihre pubertierenden Kinder bei ihrer ersten Liebe analysieren. Da gibt es bestimmt stärkere Hormonschübe zu beobachten. Ein Doc hält das tatsächlich für eine gute Idee. Seine arme Familie.

  1. April 2033 – Dienstag

So ganz lasse ich mir meinen Elan aber nicht nehmen und habe noch kurz bei meiner Senioren-WG vorbeigeschaut. Meine Kolleginnen haben mich fragend angeguckt, misstrauisch wie die Security am Flughafen, und wollten wissen, ob ich schon wieder Kräuter dabeihabe. Nein, natürlich nicht. Ich möchte sie nur von meiner Idee überzeugen, eine Tanzgruppe in der WG zu gründen. Bewegung und zärtliche Berührungen würden sicherlich allen Insassen guttun. Vielleicht entsteht ja ein neues Liebespaar.

Die haben aber alle nur genervt die Augen verdreht. Jetzt, wo der Betrieb so ruhig und störungsfrei läuft, will die schon wieder Chaos reinbringen? Wer soll sich um die Organisation kümmern? Und wenn sich einer bei dem Gestakse die Knochen bricht? Und wie geht man mit liebestollen Alten um? Oder was tun bei sexueller Belästigung? Was erzählt man den Angehörigen? Und überhaupt – eine absolut spleenige Idee von mir. Nicht umsetzbar. Ich soll erstmal gesund werden und dann wiederkommen. Und vorher unserer Media-KI Cornelia und den Kuschel-Robots nicht ins Handwerk pfuschen.

Dann eben nicht. Frustriert habe ich meine Wirkungsstätte wieder verlassen. Am liebsten würde ich mit Thorsten und Frank meine eigene Senioren-WG gründen, tief im Münsterland – dort, wo noch immer keine Leitung hinreicht und wir uns ganz ungestört und unverkabelt den reinen Naturprozessen überlassen können. Nur Liebe, Waldbaden, Toleranz, Tanz und ganz viel Ruhe!

Quelle Text: Manfred Kindler, mt-medizintechnik Heft 5/2020

Quelle Bild: Mirjam Bauer