Kolumne: Tagebuch der Vera Neumann im Jahr 2033, Teil 2

(April 2019) Vera Neumann, geboren am 21. November 1966, verwitwet, jetzt 66 Jahre alt, lebt allein in einer Kleinstadt. Sie ist Krebspatientin und arbeitet noch als Pflegemanagerin in einer Senioren-WG. Und: Sie schreibt seit vielen Jahren ein Tagebuch. Einblicke in ihre Gedankenwelt erhalten Sie exklusiv in mt-medizintechnik.

Die Therapie (Folge 2)

  1. Februar 2033 – Donnerstag

Ein Robot-Auto hat mich wieder nach Hause gebracht. Ich bin noch ganz verwirrt. Hautkrebs! Mit vielen Metastasen in meinen Organen! Die Tumorzellen haben einfach meine Lymphozyten im Blut unter­wandert und dort irgendwelche Bremsen aktiviert. Sie haben mich so umprogrammiert, dass mein Immunsystem die Krebszellen nicht mehr bekämpfen kann. Jetzt sollen sie sich durch eine raffinierte Gegenprogrammierung selbst zerstören. Eigentlich ganz schlau.

Es gäbe auch noch die Theranostik als Alternative, eine Kombination von Diagnostik mit gleichzeitiger Therapie. Dafür spritzen sie Nanokügelchen mit einem Goldkern und einer Eisenhülle ins Blut. Die Ober­fläche der Nanopartikel ist mit Biomarkern besetzt, die genau auf die Tumorzellen spezialisiert sind. Durch das Eisen kann man die krebsbefallenen Zellen im Magnetotom erkennen und gleich mit einem starken Magnetfeld den Goldkern so erhitzen, dass er die Tumorzelle zerstört. Raffiniert!

Aber wegen meiner vielen Metastasen haben sie sich für die Immuntherapie entschieden. Ich habe sogar alles verstanden, nachdem mir mein neuer KI-Doktor Ferdinand alle meine Fragen beantwortet hat. Er war sehr geduldig. Unser Videogespräch hat fast zwei Stunden gedauert.

Mit einem DNA-Test haben Molekulardiagnostiker alle meine Gene untersucht, um eine ideale Medi­kation für mich zu entwickeln.  Ein eingepflanzter Chip in meinem Arm misst jetzt ständig den pharma­kokinetischen Zustand meiner Medikamentenwirkung. Alle Daten gehen sofort an den Pillen-Robot in meiner Küche. Er stellt mir täglich einen Medikamentencocktail mit exakt angepasster Dosierung zusammen.

Dazu habe ich noch ein mobiles Kästchen bekommen, welches die Analytik eines kompletten Klinik­labors enthält. Ein paar Tropfen Blut und Urin auf zwei kleine Chips geträufelt – und schon werden Dutzende von Parametern gemessen. Früher musste man die Proben jedes Mal zu einem medizinischen Laboratorium schicken. In meinem Unterhemd sitzen jetzt eingenähte winzige Sensoren, die meinen Schweiß analysieren und meine Temperatur messen. Doc Ferdinand kontrolliert im Hintergrund, ob alle Werte auch okay sind. Im Notfall alarmiert er den behandelnden Klinikarzt. Ich bin ein gläserner Patient!

  1. Februar 2033 – Montag

Heute beginnt meine psychotherapeutische Behandlung. Ein sympathischer KI-Coach namens Gottfried informiert mich auf der Videowand über die Mindbody-Medizin. Die Klinik-Clowns auf den Stationen früher haben vorgemacht, dass Lachen die Genesung beschleunigt, weil dadurch das Immunsystem gefördert wird. Gottfried will mein Wohlbefinden und die Eigeninitiative stärken, damit meine Selbst­heilungskräfte ordentlich aktiviert werden. Er nennt es Resilienz-Training.

Viele Elemente kenne ich noch von der ganzheitlichen Naturheilkunde: Akupunktur, Atemtherapie, Aromatherapie, Massagen, viel Bewegung im Wald, Tai-Chi, Shiatsu, Reiki. Alles verfolgt nur ein Ziel: mich widerstandsfähiger gegenüber schädlichem Stress zu machen. Mein Gehirn soll gezielt an der Selbstheilung mitwirken.

Dass es funktioniert, hat man bei der Untersuchung von Placebos herausgefunden. Diese waren oft genauso erfolgreich wie Medikamente, denn es wurden die gleichen Rezeptoren im Hirnstoffwechsel aktiviert. Durch die Verbindung der früheren Alternativmedizin mit den klassischen Methoden der Schulmedizin entstand die integrative Medizin, sagt Gottfried. Er kommt mir vor wie ein elektronischer Schamane. Er hat eine angenehme Stimme und eine unendliche Geduld mit mir.

  1. März 2033 – Donnerstag

Verdammt noch mal! Vorhin hat sich Doc Ferdinand auf der Videowand eingeschaltet. Wieder mitten in mein Programm hinein. Er dringt einfach unaufgefordert in mein Leben ein. Zuerst hat er mit mir ge­schimpft. Zehn Minuten lang hat er gepredigt.  Wie wichtig Pillendisziplin für meine Therapie sei! Ich hatte gemogelt, als mir vorhin eine Tablette auf den Boden gefallen war. Ich habe sie auf der Suche danach aus Versehen zertreten.

Der Putzrobot hat dann die Krümel aufgekehrt und in den Müllschlucker geworfen. Er ist ja ständig auf der Suche nach Staub. Der Sortierrobot der Müllanlage war bei der Analyse wohl überfordert und hat irgendjemanden alarmiert, der dann Ferdinand informiert hat.

Ich bin umzingelt von irgendwelchen Robotern und Automaten! (Fortsetzung folgt…)

Quelle Text: Printausgabe mt-medizintechnik, Manfred Kindler

Quelle Bild: Mirjam Bauer