Kolumne: Tagebuch der Vera Neumann im Jahr 2033, Teil 9

(März 2020) Pflegemanagerin Vera Neumann (66) wird in ihrer Senioren-WG von KI-Robotern unterstützt. Bei ihrem letzten Treffen mit dem alten Hausarzt fühlte sich die Krebskranke wieder in die alte analoge Welt versetzt. Kurz darauf kommt es aber erneut zu einer Begegnung mit ihrem digitalen Zwilling, der ein Zuhause in einem Quantencomputer finden soll. Ihr Enkel in China ist von dieser Nachricht gar nicht beeindruckt.

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Im Quantencomputer

  1. März 2033 – Sonntag

Der lauschige Abend mit Dr. Rath geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich werde den Verdacht nicht los, der Herr nähert sich mir auf Tarn- und Umwegen. Aber eigentlich habe ich mich doch wohl gefühlt. Wie zwei harmlose Backfische redeten wir stundenlang über die Umwälzungen der letzten zehn Jahre im Gesundheitswesen und ich habe dabei Interessantes erfahren. Damals hatte man die Normwerte für Blutzucker, Blutdruck, Blutfette oder Gewicht heruntergesetzt. Millionen von Gesunden wurden mir nichts, dir nichts zu Kranken gestempelt, weil man mit ihnen viel Geld verdienen konnte. –

Bin ich denn wirklich so krank, wie behauptet wird? Wie gefährlich ist mein Krebs? Vielleicht sollte ich der Sache selber nachgehen, statt anderen zu vertrauen? – Quantify Yourself – ich könnte mich ja auch selber vermessen, checken und zum Experten meiner selbst avancieren. Oder doch noch mal an Globulis glauben?

  1. März – Montag

Beim Zähneputzen hat sich KI-Doc Ferdinand von meiner Klinik wieder frech im Badezimmerspiegel gemeldet. Fast hätte ich mich am Schaum verschluckt – vor Schreck und schlechtem Gewissen. Zunächst vermutete ich, dass mein Psycho-KI Gottfried gestern gepetzt hat, weil ich mich vor meinem Trip zu Dr. Rath nicht abgemeldet habe. Aber nein, sie laden mich zu einem Gespräch ein. Meine digitale Vera soll Körpergefühl lernen und dafür brauchen sie das Original. Und das bin wohl immer noch ich. –

Wie meinte Dr. Rath noch? Mit einem Roboter kann man nicht tanzen. Was immer das auch bedeutet, solange es mir nicht schadet oder wehtut, mach ich mit und sage meinen Besuch für Mittwoch zu. Im Bad versuche ich aber künftig ohne Spiegel klarzukommen.

  1. März – Mittwoch

Es ist vollbracht. Ich habe der Computer-Vera Leben eingehaucht, ihr meinen Körper gegeben! Ein merkwürdiges Gefühl der Nacktheit befällt mich bei der Vorstellung noch jetzt. Ich musste mich auch bis auf den Slip ausziehen und einen hautengen Latex-Anzug anlegen. Darin steckten mehrere Tausend Sensoren, die von allen Stellen meines Körpers die Muskelsignale aufnahmen. Über eine Stunde lang bin ich mit dem Handicap in einem Laserlicht herumgelaufen, musste in der Gummihaut springen, tanzen und gymnastische Übungen machen. Ich kam mir vor wie eine willenlose Attraktion im Zirkus! – Aber was tut man nicht alles für die Gesundheit oder in der Hoffnung darauf … Das Ganze wurde simultan aufgezeichnet und einem Quantencomputer eingespeist. Wollen die aus mir jetzt eine Silikonfigur mit messerscharfer KI machen?

Bei der anschließenden Konferenz waren glücklicherweise wieder mehrere echte Menschen zugegen. Die Ärzte und IT-Experten erklärten mir, dass sie mit meinem digitalen Zwilling schon mehrere vielversprechende Medikamente entwickelt hätten, aber ihnen bei der Therapiesimulation noch die dynamischen Daten für das Körpermodell fehlen. Durch die Auswertung mit dem Quantencomputer erhoffen sie sich jetzt ein eher ganzheitliches Bild meines Zwillings.

„Ganzheitlich“, das klingt ja fast so schön harmonisch und altmodisch wie „anthroposophisch“, aber mir ist nach wie vor etwas unbehaglich zumute. Was entsteht denn da für eine digitale Retorte? Wächst mir da etwa eine kleine Konkurrenz heran? Kann ich mit meiner Computer-Vera auch mal sprechen, um ihr auf den Zahn zu fühlen? Oder führe ich dann Selbstgespräche? Die Antwort beruhigte mich. Es ist nicht möglich, da es sich nur um ein rein mathematisches Modell meiner Körperfunktionen handelt. Es wird also keine künstliche Intelligenz, keine Kopie meiner Persönlichkeit geben und vorerst bleibe ich wohl noch mit mir selbst identisch.

  1. März – Freitag

Ich habe sicherheitshalber noch mal mit meinem Enkel Jochen in China telefoniert. Der Junge war wieder ganz der coole, wissende Technokrat. Dass ich jetzt in einem Quantencomputer stecke, beeindruckt ihn überhaupt nicht. Die Chinesen seien in dieser Technologie schon seit Jahren führend und setzen riesige Computerpower für die Überwachung ihrer Bevölkerung ein. Von jedem, auch dem harmlosesten Chinesen in der hinterletzten Ecke gäbe es schon lange ein digitales Abbild, welches permanent durch die Daten der Millionen Videokameras auf dem aktuellen Stand gehalten werde. Diese Profile haben eine massive Auswirkung auf das tägliche Gewimmel in dem Riesenland: Karrieren, Reisepläne, Förderungen und auch Bestrafungen hängen direkt von dem persönlichen Score ab. Liebesverhältnisse sind wohl noch nicht betroffen.

„Gedankenpolizei“, dachte ich bestürzt und plötzlich zuckte auch der coole Jochen zusammen, hielt sich die Hand vor den Mund und murmelte nur: Ich rede zu viel. Dann berichtete er unverfänglich und stolz wie ein Musterschüler von seinem neuen Mikrobiologie-Kunden. Eine riesige Bakterienfabrik, welche die großen Klimakiller zerstören soll: Boden-Bakterien, die Methan aus der Luft filtern oder Lachgas aus dem Dünger abbauen. Jetzt ist der Konzern in die Großproduktion von einem Nachfolger der Plastikfressermikroben eingestiegen, welcher ein MRSA-wirksames Antibiotikum produziert.

China wird also die Welt retten, wer hätte so etwas Großartiges gedacht! Aber bis zum letzten technologischen Wunder ist es vielleicht doch noch ein wenig hin und ich für meinen Teil sehne mich jetzt wieder nach etwas Kleinem, Leichtem und Einfachem, nach etwas analogem Boden unter den Füßen, und sei es auch in Form der merkwürdigen Zutraulichkeit von Dr. Rath. Denn noch immer vermisse ich all die Verbindlichkeiten in den guten alten Zeiten, als der digitale Zombie noch nicht alltäglicher Teil unserer Gesellschaft und das Klima nur schlicht ein Wetter mit echten Bakterien war.

Quelle Text: Manfred Kindler, mt-medizintechnik Heft 1/2020

Quelle Bild: Mirjam Bauer