Kolumne: Tagebuch der Vera Neumann im Jahr 2033, Teil 1

(März 2019) Vera Neumann, geboren am 21. November 1966, verwitwet, jetzt 66 Jahre alt, lebt allein in einer Kleinstadt. Sie ist Krebspatientin und arbeitet noch als Pflegemanagerin in einer Senioren-WG. Und: Sie schreibt seit vielen Jahren ein Tagebuch. Einblicke in ihre Gedankenwelt erhalten Sie exklusiv in mt-medizintechnik.

Tagebuch „Die Diagnose“

1. Januar 2033

Mein Enkel Jochen hat mir aus China eine nette Hologramm-Botschaft zum Neuen Jahr geschickt. Mit einer Extraportion Streichelvibration auf meinem Handy. Er wünscht mir angenehmeres Wetter.

Übermorgen muss ich wieder in der WG arbeiten. Hoffentlich sind die Kuschelroboter für die Demenz­station gereinigt worden. Und bei Robbiman musste ein Berührungssensor repariert werden. Letzte Woche hat er mich bei Umdrehen vom dicken Herbert an der Bettkante eingequetscht. Unser Facility­manager hat ihn sofort aus dem Verkehr gezogen. Wir mussten wieder alle per Hand schuften, die Servierroboter waren einfach zu schwach für diese Arbeit.

24. Januar 2033

Heute war ein grausamer Tag. Die Videotapeten mit den bewegten Naturpanoramen sind in der elften Etage komplett ausgefallen. Den ganzen Tag über war nur die nackte Wand sichtbar. Ständig gab es Unruhe und Gemecker. Wir haben alle Unterhaltungsroboter und die alten Videoschirme des Hauses zusammengeholt und aufgestellt. Danach wurde es endlich ruhiger auf der Station. Meine faule Kollegin Erna wollte wohl nicht schleppen und hat der besonders renitenten Elsbeth eine Geschichte vorgelesen. Dabei hatte bei ihr die VR-Brille mit ihrem Lieblingsfilm immer gut gewirkt.

  1. Februar 2033

Heute morgen nach der Dusche hat mein Badezimmerspiegel plötzlich Alarm ausgelöst. Er hat eine verdächtige Veränderung am Rücken festgestellt, nachdem er meine Haut mit seinen früheren Daten verglichen hat. Dafür ist meine sprechende Toilette jetzt immer voll des Lobes, seit ich mein neues Insulin-Implantat trage. Die Urintestwerte sind blendend. Jetzt darf ich sogar ab und zu mal sündigen und Schokolade essen. Leider hat der Analysator entdeckt, dass ich mir gestern ein Schlückchen von meinem Likör gegönnt habe. Das gibt wohl einen Punktabzug in meiner Gesundheitsakte.

  1. Februar 2033

Das Telemed-Center hat mein Smartphone-Bild von der neuen Hautpustel analysiert und es dem KI-Dermatologen zur Diagnose weitergeleitet. Er hält es für einen bösartigen Hautkrebs und empfiehlt eine sofortige Therapie. Ich traue den Computerdoktoren nicht und werde meine Haut erstmal noch eine Weile beobachten. Vielleicht sollte ich den Spiegel im Bad mal gründlich putzen.

  1. Februar 2033

Ein Arzt meiner Krankenkasse hat sich plötzlich mitten in mein Videoprogramm eingeschaltet und eindringlich zur Tumorbehandlung geraten. Die Kasse hat mir einfach einen Termin im Klinikzentrum bei einem Spezialisten verschafft. Ich bin wütend. Die spannende Krimiszene verpasst. Wer hat mich da verpetzt? Meine Apple-Gesundheitskarte etwa?

  1. Februar 2033

Am Abend bin ich zum Amazon-Gesundheitskiosk im Supermarkt an der Ecke gegangen. Ein netter Berater hat mit einem kleinen Ultraschallsensor an seinem Smartphone eine Messung der Tumordicke durchgeführt und mich über die Behandlungsmöglichkeiten aufgeklärt. Mich haben auch die alter­nativen Therapien ausländischer Kliniken interessiert. Dank Google-Translator konnte ich alle fremd­sprachigen Portale sofort in Deutsch lesen, sogar die chinesischen und arabischen. Gemeinsam durch­stöberten wir dann die Bewertungsportale für Ärzte, Kliniken und Therapien. Es scheint da große Unterschiede in der Qualität und Vorgehensweise zu geben.

  1. Februar 2033

Ein Uber-Health Auto hat mich heute die 60 Kilometer zum großen Klinikzentrum gefahren. Der Beglei­ter hat mir während der gesamten Fahrt Witze erzählt und mit mir über die Weltlage diskutiert. Er ist ganz stolz auf sein japanisches Brennstoffzellen-Auto. Die deutsche Autoindustrie hat sich mal wieder kurzsichtig auf Elektroautos spezialisiert und bleibt jetzt auf ihren teuren Batterien sitzen. Dabei hatte der deutsche Wagen von meinem Jochen in seinem Sitz ein supermodernes medizinisches Diagnostik­system mit ganz tollen Massagefunktionen eingebaut.

Im Klinikcampus angekommen bringt mich ein netter Hostess-Mann zum surrealistisch gestylten Imaging-Center. Ehe ich mich versehe, liege ich nach einem kurzen Labortest schon in einer MRT-Röhre. Kurz danach werde ich in ein gemütliches Zimmer gebeten, wo ein Arzt mit zugeschalteten Kollegen in englischer Sprache meine Bilddaten diskutiert. Auch der KI-Doktor ist der Meinung, dass sich schon bedrohliche Metastasen in meinen Organen gebildet haben. Anstelle von Stahl und Strahl soll eine Immuntherapie versucht werden. Ich bin anscheinend ein medizinisch interessanter Ausnahmefall. Viele Mediziner weltweit interessieren sich jetzt für mich. Sollte ich mich darüber freuen?

Quelle Text: Printausgabe mt-medizintechnik, Manfred Kindler

Quelle Bild: Mirjam Bauer