Kolumne: Tagebuch der Vera Neumann in Jahr 2033, Teil 15

(April 2021) Der digitale Zwilling der verliebten Vera Neumann ist mit der Simulation ihrer hormonellen Situation überfordert. Die behandelnden Kliniker wollen nun über weitere Sensoren Daten aufnehmen, aber die skeptische Vera unterwirft ihre KI-Doktoren einem heimlichen Turing-Test. Nach dem blamablen Ergebnis kommt ihr eine Idee.

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  1. April 2033 – Freitag

Doc Ferdinand war von meinem Vorschlag sehr angetan. Ich will auch die digitale Vera in einem Dialog testen. Sein IT-Team nimmt die Herausforderung an: Am 9. Mai soll der Disput analoge versus digitale Vera stattfinden. Das gibt mir Zeit, mich mit meinen Freunden über mögliche Themen zu beraten.

Mein „Ernährungscoach“ Frank schlägt ein Gespräch über das Leben der Pflanzen vor, Hygiene-Inspektor Wilhelm legt mehr Wert auf die Wirkung natürlicher Kräuter. Und meine neue Eroberung Thorsten kennt naturgemäß nur ein unschlagbares Thema: die Kraft der Liebe. – Mir ist alles recht, wenn es mir nur gelingt, der Künstlichen Intelligenz die Grenzen aufzuzeigen und die sterile Arroganz der Kliniker durch ein paar Natur-Tatsachen zu erschüttern.

  1. Mai 2033 – Montag

Der Test verlief ganz anders als erwartet. Wir trafen uns in einem Konferenzsaal – um mich herum etliche Mediziner und IT-Leute. Im Hintergrund ein Kamerateam.

Plötzlich flimmert es auf einem Podest. Ein Hologramm erscheint, untermalt von minimalistischer Musik – die digitale Vera. In Lebensgröße. Sie ist meine perfekte Kopie, trägt sogar mein Kleid. Sie kennt die Farbe meines Lippenstifts und wirkt etwas verjüngt, fast verführerisch. Sie bewegt sich ein paar Schritte auf der Stelle – elegant – und imitiert dabei meine Gestik. Und doch hat sie etwas mir ganz Fremdes, Starr-Puppenhaftes.

„Ich begrüße dich, Vera. Schön, dass wir uns kennenlernen.“ Ihre Tonlage und Sprachmelodie, ihre Mimik – als wenn ich einen Film von mir sehe. Ich bin perplex und stottere etwas unbeholfen: „Hallo, du Vera-Kopie. Wie soll ich dich nennen?“ „Ich bin Dive, die digitale Vera. Ich sehe, du bist sehr aufgeregt.“ – „Woher willst du das wissen?“ – „Ach Liebes, ich sehe doch deine Pulsader am Hals, wie sie pocht. Deine Gesichtsmuskeln sind angespannt, deine Atmung ist flach, deine Stimme zittert leicht. Keine Angst, Baby, ich tue dir nichts.“

Meine Güte, sie haben mich bis ins Detail analysiert und in dieser Diva nachgebaut. Sie strahlt ein starkes Selbstbewusstsein aus und tut unangenehm vertraulich. Dabei kennen wir uns erst seit drei Minuten. Nach dem ersten Schreck beschließe ich, meine Stärken auszuspielen. „Dive, du redest von Angst. Kannst du überhaupt menschliche Gefühle nachempfinden?“ – „Ja, ich beherrsche das gesamte Gefühlsspektrum eines Menschen.“ – „Beherrschen? Das ist nicht das Gleiche. Du kannst nur alles simulieren, nachäffen, aber doch nichts echt empfinden.“ – „Nein, ich simuliere nichts, ich habe alles wie ein Kind von Grund auf gelernt.“ – „Wir Menschen haben ein lebendes Gehirn, du hast nur leblose Speicherzellen.“ – „Menschliche Gehirne funktionieren genauso wie meine neuronalen Netze, Baby.“

Baby, Baby – sind wir hier in Amerika? Sie kennt mein Make-up, aber bei meinen Sprachgepflogenheiten versagt wohl das Erinnerungsvermögen dieser Barbie. Das ist ein fauler Zauber und deshalb kommt jetzt gleich mein Trumpf: „Aber ich habe eine Mutter und einen Vater aus Fleisch und Blut und mit echten Genen. Und dazu Großeltern und Ahnen und einen ganz, ganz tiefen Background von Urwald und Urururahnen! Du aber wurdest nur von einem IT-Designerteam in der Digital-Retorte erschaffen.“ – „Liebes, die Grundlage ist doch vergleichbar. Du hast dich aus einzelnen Zellen entwickelt und bist nun ein komplexer Zellverbund. Meine Existenz basiert auf elektronischen Elementen, auf digitalen Zellen in einem komplexen Quanten-Netzwerk.“ – „Ach was, Abrakadabra und Quantenquatsch: Ich sage dir: Ich habe durch meine Sinne im Laufe des Lebens die Welt genossen, erlitten und kennengelernt und mir dabei eine Seele erworben – See-le! Du dagegen wurdest einfach programmiert, grausam geschichtslos synthetisiert, am P-C! Davor gab es nichts, gar nix, verstehst du?“ – „Meine elektronischen Sinnesorgane umfassen durch spezielle Sensoren das gesamte Wellenspektrum des Universums. Meine Weltkenntnis basiert auf allen verfügbaren Informationen der Menschheit. Ich erhalte pausenlos neue Daten aus der Umwelt. Du besitzt mentale Modelle, ich nutze vergleichbare digitale Modelle der Welt. Also, Baby, wir unterscheiden uns nicht im Grundsatz.“

Oh doch, du rudimentärer Twin, denke ich, in der Sprache sind wir doch recht verschieden! Baby … Liebes … Baby … alberner Programmierfehler … Und wir unterscheiden uns im Temperament, denn im Gegensatz zu dir bin ich aus der Ruhe zu bringen. Und das führt zu keinem metallischen Geschepper, sondern zu echten Wallungen und erhöhtem Puls … Bei alldem: Diese Dive war schon ziemlich geschickt im Argumentieren. Wir palaverten über eine Stunde lang.

Schließlich spreche ich ihre Schwachstelle an: „Hör mal, Diva, du weißt aber nicht, was Liebe ist. Du bist ratlos und hast rein gar keine Ahnung, was in meinem hochdifferenzierten feinfühligen Liebes-Inneren vor sich geht. Ich kann dir auch verraten, warum du das nicht kapierst: Weil du nur in Nullen und Einsen denken kannst! Im Planquadrat kann man Liebe aber nicht abbilden. Liebe ist nämlich keine Rechenaufgabe, sondern ein großes Geheimnis und ein Abenteuer mit Kurven und Kanten!“ – „Aber Vera-Baby, das stimmt so leider nicht. Ich denke mit einem Quantencomputer, der alle Zustände zwischen Null und Eins verwendet. Lass uns nun über Liebe reden, Liebes. Deine Liebe. Ein sehr interessantes Thema.“

Das notorische Puppen-Ding gibt sich unschlagbar. Ich soll also ernsthaft mit einer Maschine über die Liebe reden? Für heute aber müssen wir abbrechen, da ich total erschöpft bin. Die Mediziner hingegen sind fasziniert von unserem Disput und dringen auf eine Wiederholung. Soll ich mich mit dem zwielichtigen Apparat wirklich weiter duellieren? Oder mich lieber den realen Liebesgefechten widmen?

Quelle Text: Manfred Kindler/mt-medizintechnik Heft 1/2021

Quelle Bild: Mirjam Bauer